© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/16 / 23. September 2016

Westlichen Platzhirschen Paroli bieten
„Dialog der Zivilisationen“: Putin-Intimus Wladimir Jakunin will in Berlin eine alternative Denkfabrik etablieren / Kritiker warnen vor Moskauer „Propaganda“
Lukas Wehnert

Denkfabriken, so die sperrige Übersetzung des angelsächsischen Wortes „think tanks“, horten Gedanken. In der Realität beschäftigen diese Organisationen ein Netzwerk eigener und freier Experten damit, Monographien, Analysen oder Kommentare zu bestimmten Themen zu verfassen. Ihr Wirken ist nicht selten ausschlaggebend für die spätere Deutungshoheit über Begriffe und Argumente. Pionier der Gattung war der US-Amerikaner Robert Somers Brooking (1850–1932), der 1916 in Washington den Prototyp ins Leben rief, das Institute for Government Research. Elf Jahre später wurde daraus die Brookings Institution, die heute als renommierteste Denkfabrik der Welt gilt.

Binnen weniger Jahre in den elitären Kreis der Top 20 dieser globalen Thinktanks aufzusteigen ist das ehrgeizige Ziel der jüngsten in Deutschland ansässigen derartigen Institution, des Berliner Forschungsinstituts „Dialog der Zivilisationen“ – oder kurz DOC, wie das Institut sich nach seiner englischen Namensversion nennt. Falls das Ziel erreicht wird, so war es dem Institut nicht an der Wiege gesungen. 

Statt Kampf: ein Dialog zwischen den Kulturen

Im Gegenteil. In den deutschsprachigen Medien schlagen ihm Kritik, offene Häme und geradezu Feindschaft entgegen. Stein des Anstoßes ist der Initiator und Ko-Gründer, der Russe Wladimir Jakunin, von 2001 bis 2015 Chef der russischen Staatsbahnen, langjähriger und enger Weggefährte von Präsident Wladimir Putin und ein Protagonist in der Auseinandersetzung mit der westlichen Weltanschauung. 

Für den größten Teil der Medienlandschaft ist der Mann ein rotes Tuch: Ingenieur mit Schwerpunkt Raketenbau, nach eigenen Worten über 20 Jahre Mitarbeit im Geheimdienst, zuletzt als Hauptmann-Ingenieur, ab 1985 Diplomat bei der sowjetischen, später russischen UN-Vertretung in New York, 1996 Mitgründer der sagenumwobenen Datschen-Kooperative „Osero“ bei St. Petersburg, seitdem Mitglied im engsten Putin-Kreis. 

Seit 2015 widmet er sich philanthropischen Belangen, hauptsächlich in Form konservativer, prokirchlicher Stiftungen und Organisationen, die er in erheblichem Umfang mit eigenen Mitteln unterstützt. Er ist reich geworden als Eisenbahnchef. Daß die Nähe zum Staatschef in Rußland jeder Form von Erwerbstrieb förderlich ist, wird niemanden überraschen. Jakunin muß damit leben, daß man diesen Umstand aus deutscher oder überhaupt westlicher Sicht schwerlich gutheißen wird. Da er zudem Meinungen äußert, die unter deutschen Intellektuellen faktisch tabu sind – das Bekenntnis zur traditionellen Sexualmoral und zur Religion oder die Kritik am Universalismusanspruch der westlichen Werte –, ist die Reaktion programmiert.

Ko-Gründer des DOC sind neben Jakunin der Göttinger Professor Peter Schulz und der frühere Generalsekretär des Europarats, der Österreicher Walter Schwimmer. Zur Prominenz bei der Eröffnungsveranstaltung Ende Juni gehörten die Ex-Chefs der Bahn, Hartmut Mehdorn, und des BND, August Hanning, ebenso wie Ronald Pofalla, Bahn-Vorstand und Vorstandsvorsitzender des Petersburger Dialogs, oder Matthias Platzeck, Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums. 

Die Entstehungsgeschichte des Instituts reicht bis zur Jahrtausendwende zurück. 1998 erklärte die UN-Generalversammlung auf Initiative des iranischen Staatspräsidenten Mohammad Chatami das Jahr 2001 zum „Jahr des Dialogs zwischen den Kulturen“. Nach dem Anschlag auf das New Yorker Welthandelszentrum im September 2001, in einer weltweit aufgeheizten Atmosphäre, die Samuel Huntingtons Prognosen („Kampf der Kulturen“, 1996) zu bestätigen schien, verabschiedete die Generalversammlung die Resolution „Globale Agenda für den Dialog zwischen den Kulturen“. 

Wenige Monate später riefen der inzwischen verstorbene indische Sozialwissenschaftler und Unternehmer Jagdish Chandra Kapur, der Russe Jakunin und der griechischstämmige US-Unternehmer Nicholas F. S. Papanicolaou das „World Public Forum Dialogue of Civilizations“ (WPF) ins Leben.

Debatten um künftige Wirtschaftsformen

Höhepunkt des WPF ist das seit 2002 alljährlich auf der griechischen Insel stattfindende Rhodos-Forum. Es bietet konservativ gesinnten Wissenschaftlern, Aktivisten und Politikern aus der ganzen Welt eine Plattform. Das nächste Rhodos-Forum Ende September 2016 steht unter dem Motto „Das Chaos der Vielfalt: Ein dringender Aufruf zum Dialog“. Als Gäste werden die Premierminister aus Ungarn und der Slowakei, Viktor Orbán und Robert Fico, sowie der tschechische Staatspräsident Miloš Zeman erwartet. 

Die Themen des DOC und des Rhodos-Forums sind identisch. Es geht um das Verhältnis zwischen den Kulturräumen Ost und West, um soziale Regression, die in eine „neue Barbarei“ mündet, um den „Schutz des Humanen im Menschen“, um globale Infrastruktur und Entwicklung sowie um künftige Wirtschaftsformen nach dem Scheitern der herkömmlichen Modelle.

Nicht wenige westliche Intellektuelle halten das Rhodos Forum für einen „Fringe Event“, eine Veranstaltung, auf der Wissenschaftler, die im Mainstream kein Zuhause gefunden haben, ihre Theorien verhandeln. Die US-Amerikanerin Alissa Jones Nelson, DOC-Redaktionsleiterin in Berlin, warnt allerdings davor, die Veränderungen der zurückliegenden 15 Jahre zu unterschätzen. 

Die seit 2008 schwelende Systemkrise der Finanzwelt, das neue Machtbewußtsein der Chinesen und die Rückkehr Rußlands als zwar finanzschwache, aber ressourcenreiche eurasische Großmacht – all das hat zur Folge, daß nicht mehr eine einzige Weltregion die Spielregeln diktieren kann. Das Phänomen des Islamischen Staats, die Migrationskrisen rund um das Mittelmeer und die Rückbesinnung auf nationale Identitäten machen deutlich, wie rasch die Träume vom Ende der Geschichte, vom „Global Village“ und der weltweiten Herrschaft der aufgeklärten, westlichen Vernunft zerplatzen.

Um so dringlicher, so die aus China stammende Chen Jiahong, die als DOC-Forschungsdirektorin amtiert, sei der Dialog der Zivilisationen und Kulturen in Ost und West, Nord und Süd. Bei einem Pressebriefing gab sie eine Einführung in die künftige Arbeit des Instituts. Die maßgeblichen Kriterien: intellektueller Anspruch, Unabhängigkeit im Denken und internationale Bedeutung. 

Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal scheint zu sein, daß das Institut anders als die Mehrzahl der weltweiten Thinktanks nicht in der westlich-angelsächsischen Denktradition wurzelt. Vielleicht sind nicht ohne Grund Chinesen, Inder und Iraner in der einen oder anderen Form an seinem Werdegang beteiligt. Es sind die ganz alten Kulturen, die nach dem Abgang der Europäer Antworten darauf suchen, was nach vollendeter Globalisierung aus der Welt denn nun werden soll. Spricht man mit Vertretern des DOC, so stellt die angebliche Moskauer Agenda sich jedenfalls als Chimäre dar, oder als Ergebnis übersteigerter Rußlandangst. Auch die Themenfelder, die Chen vorstellt, haben nicht wirklich viel mit Rußland zu tun.

Redaktionsleiterin Jones Nelson, die schon mehrere Jahre in Berlin ansässig ist, erklärt, warum die Wahl ausgerechnet auf diese Stadt fiel. Berlin sei ein „Labor des kulturellen Miteinanders“ und des interkulturellen Dialogs – wie immer der ausgehen mag. Es gebe daher kaum einen besseren Platz für eine Organisation, die sich als Schnittstelle unterschiedlicher Kulturen versteht. Deutschland als europäisches Land zwischen Ost und West biete da die idealen Voraussetzungen. Die Standortwahl, so Nelson, demonstriere aber auch, daß das Institut westlichen und nichtwestlichen Denkansätzen gleichermaßen als Bühne für den Dialog dienen wolle. Daß Berlin eine deutsche Stadt sei, habe bei der Auswahl noch die geringste Rolle gespielt. Der Schwerpunkt, das bestätigt auch ihre Kollegin Chen, liege auf der gemeinsamen Suche nach gemeinsamen Lösungen für gemeinsame Probleme.

Eine Vielzahl von Veranstaltungen geplant  

Das DOC-Team weiß genau, daß der theoretische Ansatz des Instituts von den sogenannten Universalisten als kulturrelativistisch kritisiert werden wird. Beide Positionen liegen in heftigem Streit. Im Kern geht es um die Frage, ob die menschlichen Wertesysteme sich je nach kultureller Zugehörigkeit unterscheiden oder ob die Werte der westlichen Aufklärung universal, also für alle Menschen gültig sind. Die Schärfe mancher Reaktion nach der Eröffnungsveranstaltung, so ist herauszuhören, verdankt sich möglicherweise auch dem Selbstbewußtsein, einen unorthodoxen Denkansatz mitten in einem Zentrum der westlichen Welt zu etablieren. So titelte die Neue Zürcher Zeitung: „Russische Propaganda: Putins Kampf um Berlin“. Und Karl Schlögel schrieb in der Welt, Putin „treibt mit einem deutschen Thinktank nun den Propaganda-Krieg gegen den Westen auf die Spitze“. Gilt der Zorn am Ende gar nicht so sehr den Moskauer Politikern, sondern der konkurrierenden Weltanschauung?

Chen und Jones Nelson unterstreichen jedenfalls die Relevanz und Legitimität eben dieses Diskurses. Die Vertreter traditioneller und moderner Gesellschaftsmodelle müßten dringend auf Augenhöhe kommunizieren und sich auf die gemeinsame Bewältigung der Globalisierungsfolgen konzentrieren. Genau das sei die Absicht des DOC. Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit liege im Verständnis und in der Lösung globaler Konflikte. 

Das Institut sieht sich dabei als hermeneutisch vorgehenden Mittler, wobei das Verstehen und Auslegen der unterschiedlichen Narrative im Zentrum steht. Ab Herbst 2016 verfügt es über eigene Büro- und Veranstaltungsflächen in der Nähe des Gendarmenmarkts. Ab diesem Zeitpunkt ist dann außer der wissenschaftlich-publizistischen Arbeit auch eine intensive Veranstaltungstätigkeit geplant. 





Denkfabriken

15 der 20 renommiertesten Denkfabriken sind in den angelsächsischen Ländern beheimatet, neben Brookings so angesehene wie Chatham House, RAND, Carnegie, die Heritage Foundation und die Institute Cato und Adam Smith. Deutschland ist auf der Liste mit zwei Namen vertreten: Transparency International und Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Insgesamt existieren in den USA über 180 derartige Institutionen, in Rußland gerade einmal sechs. Ihr Einfluß auf die öffentliche Wahrnehmung, die gesellschaftliche Willensbildung und das politische Handeln ist nicht zu unterschätzen.