© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/16 / 23. September 2016

Das zweite Seil
Für viele ein Traum: Der Beruf des Industriekletterers verlangt handwerkliche Basisqualifikationen
Martin Voigt

Statt wochentags im Büro zu sitzen lieber in luftiger Höhe über dem Alltäglichen schweben – und das rein beruflich. Diese Vision führt zu fast täglichen Anfragen bei Robert Strecker, ob man nicht während der Semesterferien oder am besten gleich so ganz und gar als Um- oder Aussteiger in die Zunft der Kletterer einsteigen könne. Doch Strecker winkt ab. So hoppla di hopp gehe das nicht, und die wenigsten brächten die nötigen Basisqualifikationen mit.

Industriekletterer werden Bürokaufleute oder studierte Geisteswissenschaftler eher nicht mehr. „Wir suchen zum Beispiel Schweißer und Elektriker, die so schwindelfrei sind, daß sie ihren gelernten Job auch ein paar hundert Meter über dem Boden ausüben können“, sagt der Gründer der Firma Quasary GmbH gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Tausende Windkraftanlagen und immer mehr Funkmasten, deren Zustand regelmäßig dokumentiert, die gewartet und gelegentlich auch repariert werden müssen, mausern sich derzeit zum neuen Markt in der Szene der Industriekletterer.

Quereinsteiger verdingen sich als Freischaffende

„Wir haben das im Blick“, sagt Strecker, der nur noch selten in den Gurt steigt, weil er als Leiter seines wachsenden Unternehmens nun vor allem am Schreibtisch zu tun hat. Allerdings seien das Gros der Aufträge noch ganz klassische Fassaden- und Gebäudereinigungen. Im Grunde lebe die Branche davon, daß sich so mancher Architekt kaum Gedanken darüber machen würde, wie eine spektakuläre Glas- oder Edelstahlfassade einmal zu reinigen sei. Die Glasdecke im Innern der DZ-Bank in Berlin war so eine besondere Herausforderung. Nicht an jedem Wolkenkratzer können außen Waschsysteme mit mobilen Arbeitskörben installiert werden. Außerdem seien die sündhaft teuer und öfter mal kaputt, erklärt der Enddreißiger.

Eine Fensterfront nach der anderen zu putzen ist trotz toller Aussicht nicht unbedingt der ersehnte Höhenflug. Über Stunden hängt man im Gurt, der im Gegensatz zum Sportklettern auch über Brust und Schultern geht und deutlich massiver und schwerer ist. Aber man ist ständig in Bewegung. Die Beine suchen Halt, auch auf glatter Fläche, damit man sich beim Wischen und Scheuern nicht verdreht oder zu schwingen anfängt.

„Wenn man abends aus dem Gurt steigt, merkt man erst, wie das einschneidet“, erzählt einer von den Kletterern, die bei der Quasary GmbH fest angestellt sind. Aber sonderlich gequält wirkt er nicht, auch nicht so stumpf und frustriert, wie manch ein Pendler im morgendlichen Berufsverkehr, der seine Tage mit geistiger Arbeit vorm Bildschirm verbringt. Auf die Frage, wie das denn mit den Temperaturen im Winter so sei, zieht sich ein dickes Grinsen über das sonnengebräunte Gesicht. Ziemlich geschwitzt hätten die Männer, die vergangenen Winter den Schnee vom Dach des Berliner Flughafens Tempelhof geschaufelt hatten. Die Daunenjacken seien schon in den ersten Minuten zur Seite geflogen, und trotz harter Arbeit hätten sie viel Spaß gehabt.

Bei Dauerregen oder Minusgraden schickt Strecker niemanden das Seil hoch beziehungsweise hinunter, denn man fängt ja oben an und seilt sich in den meisten Fällen dann ab. An einem Schornstein oder einem anderen festen Ankerpunkt werden die Seile befestigt. Berufskletterer sind dazu verpflichtet, ihr Leben mit einem zweiten Seil abzusichern. Da jedoch die besten Seile nichts nützen, wenn sie oben falsch festgemacht sind, muß der Kletterer eine Ausbildung beim Fach- und Interessenverband für seilunterstützte Arbeitstechniken (FISAT) absolvieren. Die Kosten für die theoretischen und praktischen Prüfungen in Material- und Knotenkunde oder Sturzphysik und Rettungstechniken im vertikalen Seilzugang muß der angehende Kletterer selbst bezahlen, genauso die 2.500 Euro teure Ausrüstung.

Mit nicht viel mehr Klettererfahrung als der fünf Meter hohen Übungswand und oftmals ohne handwerkliche Basisqualifikation versucht er dann, auf dem freien Markt Fuß zu fassen. Wer eine Firma zu leiten hat, sucht ausgebildete Handwerker, die dann auch wissen, was auf einem Sendemast oder im Silo einer Müllverbrennungsanlage zu tun ist, mahnt Strecker. Die meisten Quereinsteiger verdingen sich dann als freischaffende Kletterer, die vor allem in der warmen Hauptsaison gebucht werden. Entsprechend ist auch das Preisgefälle in der Branche. Während Free­lancer fürs Fensterputzen von manchen Firmen bloß 11 Euro pro Stunde bekommen, kann ein kletternder Techniker im Offshore-Windpark mindestens 65 Euro in der Stunde berechnen.

Atemberaubend ist die Bezahlung in der männerdominierten Branche nicht. Nur wenige Frauen klettern beruflich. Gläserne Decken gebe es in der Branche aber nicht, beteuert Strecker, höchstens solche, die geputzt werden müssen.

Foto: Fensterputzer beim Reinigen einer Glasfassade in Berlin: Von Aussteigerromantik bleibt nicht viel