© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/16 / 30. September 2016

Verzweiflung bei den Stichwortgebern
Deutscher Historikertag 2016 in Hamburg: „Glaubensfragen“ und viel Unverbindliches von einer immer mehr ins Abseits geratenen Disziplin
Stefan Scheil

Frank-Walter Steinmeier ließ sich immerhin zuschalten. Von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York aus gab sich der deutsche Außenminister die Ehre, vergangene Woche den in Hamburg stattfindenden deutschen Historikertag zu eröffnen. Die Historiker würden aktuell gebraucht, nicht als Ratgeber für gerade anstehende Probleme wie zum Beispiel in der Syrienfrage, schränkte er sogleich ein, aber doch immerhin als Stichwortgeber für Anregungen. Schließlich gäbe es historische Vorbilder und Analogien.

Im Fach nahm man das trotz der dramatischen Gesamtlage zurückhaltend zur Kenntnis. In besseren Zeiten traten bedeutende Personen des öffentlichen Lebens nicht nur in Einblendungen, sondern gern und regelmäßig in Person auf Historikertagen auf. Das waren die Jahre, in denen die Geschichtswissenschaft so etwas wie eine Erklärungs- und Deutungshoheit für Vergangenheit und Gegenwart beanspruchen konnte. Als neuentwickelte Disziplin mit wissenschaftlichem Anspruch genoß das im 19. Jahrhundert etablierte Fach lange Zeit ein hohes Ansehen. Sich nicht nur als Individuum, sondern auch als Teil eines geschichtlichen Prozesses und einer großen Tradition zu begreifen, das gehörte zum Standard einer aufgeklärten Selbstreflexion des bewußten Menschseins in Deutschland. Sogar in den Jahren nach 1968 blieb diese Konstellation erhalten, als der Kampf um das Geschichtsbewußtsein in umgedrehter Form als hochpolitisches Ziel eine große Rolle spielte.

Das ist vorbei. Mittlerweile kämpft das Fach Geschichte um einen mehr oder weniger banalen Anspruch, überhaupt noch wahrgenommen zu werden, beispielsweise im Schulunterricht. Einen Tag nach dem Ende des Historikertags plädierte Historikerverbandschef Martin Schulze Wessel in der Frankfurter Allgemeinen für eine Kehrtwende im schulischen Bereich. Der Spezialist für Osteuropäische Geschichte zog den spektakulären Vergleich der aktuellen bundesdeutschen Entwicklung mit Diktaturen, in denen Geschichte nicht gelehrt worden sei, weil ihr Studium immer auch Alternativen aufzeigen würde. Aber auch eine Versicherung, echtes Geschichtswissen schütze vor „Populismus“, mußte bei ihm als Argument herhalten.

Das war eine Mischung aus starkem Tobak und einem beachtlichen  Schuß Verzweiflung. Dies hat Gründe, die schon im Programm des Historikertags erkennbar waren. Frank Walter Steinmeier hätte vergeblich nach außenpolitischer Orientierung gesucht, hätte er sich nach Hamburg auf den Weg gemacht. Auf dem Historikertag, der diesmal unter dem Motto „Glaubensfragen“ stand, hätte er weder Anregungen zur Diplomatiegeschichte noch zur Militärgeschichte finden können. Wer, wann, was zu wem gesagt hat und mit welchen Hintergedanken, welche Interessen hinter Rüstungswettläufen und Truppenbewegungen standen, oder wer, wann über wie viele Kanonen oder Panzer verfügte, das sind nicht die Fragen, über die derzeit im Fach Geschichte nachgedacht wird. 

So hatten die Sektionen über Glaubensfragen denn Titel wie „Die gesunde Gesellschaft als Glaubensfrage – Zur Pathologisierung des Sozialen in der Moderne“. Hier ging es unter anderem um die angeblich willkürliche gesellschaftliche Anklage von „Müßiggängern“ und „Faulen“. Es gab „Zukunftswissen und Zukunftsglaube – Zur Geschichte der Prognostik und Zukunftsexpertise im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts“ und „Der Glaube an die Nation – Zivilreligion in den USA und Deutschland“. Die angekündigten Beiträge dazu befaßten sich fast ausschließlich mit den Verhältnissen in den USA. Der einzige Beitrag zu Deutschland ging der Frage nach, ob hierzulande die Zivilreligion auch der Integration dient. Aus den Themenstellungen sprach sämtlich der (Aber)Glaube, es sei eigentlich alles Existierende nur „Konstruktion“ und habe keine Substanz.

Das war insgesamt zuviel unverbindliches Gerede, um sich gesellschaftlich bemerkbar zu machen. Jedwede heikle Sachfrage etwa aus der im bundesdeutschen Alltag täglich als historisches Leit- und Skandalbild präsentierten Weltkriegsära blieb ausgeblendet. So schwächt denn ein Fach selbst seine einstige Bedeutung, wenn der Mut und die Neugier fehlen, hier objektiv nach Analogien zu suchen.