© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/16 / 07. Oktober 2016

Wer bürgt, wird erwürgt
Familiennachzug: In Hessen werden Freiwillige für Leistungen zugunsten syrischer Flüchtlinge vom Jobcenter zur Kasse gebeten
Verena Inauen

Ulrich Breidert-Achterberg ist renommierter Arzt für psychosomatische Erkrankungen. Sein Gehalt übersteigt das eines Durchschnittsverdieners bei weitem. Als eine Rechnung vom Jobcenter ins Haus flatterte, staunte er nicht schlecht. 500 Euro möchte das Amt von ihm haben. Er hatte nämlich ein Jahr zuvor, im Juni 2015, eine Bürgschaft für eine syrische Flüchtlingsfamilie unterschrieben. 

Viele schon im Land befindliche Syrer konnten wegen Geldmangels ihre Familienmitglieder nicht nach Deutschland holen, woraufhin die örtliche Flüchtlingshilfe für das Bürgschaftsmodell zu werben begann. Gemeinsam mit dem hessischen Innenministerium fungierte sie als Vermittlerin und klärte interessierte Bewohner auf. Zwischen Ankunft und Zuerkennung von Sozialleistungen sollten freiwillige Paten für den Lebensunterhalt der Flüchtlinge bürgen. Wenn diese also nicht aus eigenen Mitteln für die Miete aufkommen könnten, sollten die Bürgen privat einspringen, so der Plan.

Kein Spielraum für        Verhandlungen

Der Arzt Breidert-Achterberg ist einer von rund 30 Einwohnern, die wenig später für den Familiennachzug von Asylbewerbern einstanden. Das finanzielle Risiko erschien für die zumeist gutsituierten Bürgen verhältnismäßig gering. Sie rechneten mit einer Zeitspanne von einem halben bis zu einem ganzen Jahr, bis die Asylbewerber offiziell anerkannt würden. Der Anforderung an die bereits in Hessen wohnenden Syrer, für den Lebensunterhalt ihrer nachkommenden Familien zu sorgen, konnten die meisten nicht gerecht werden. 

Ohne eine Erklärung der Bürgen hätten die Familien nur über Schlepperrouten nach Deutschland kommen können. Mit dieser Bestätigung und dem Ersparten in der Tasche konnten sie legal mittels Bus, Bahn und Flugzeug nach Deutschland einreisen.

Steuerliche Prüfungen, Einkommensnachweise und Bescheinigungen über die Fähigkeit zum Bürgen wurden nicht nur von Breidert-Achterberg eingeholt, sondern auch von den übrigen zehn Familien im Umkreis. Nach positiver Prüfung ging es auch schon an die Vertragsunterzeichnung mit der Gießener Ausländerbehörde. Enden sollte die Patenschaft, sobald die nachgeholten Personen einen anerkannten Status in Deutschland erhalten hätten und Hartz IV beziehen könnten, wurde den Bürgen sogar vom Innenministerium zugesichert. Wie von den Paten erwartet, erhielten die meisten der Syrer recht schnell einen Aufenthaltstitel und bezogen sogleich auch Sozialleistungen.

Wie Breidert-Achterberg rechnet auch das Grünen-Ortsvorstandsmitglied Klaus-Dieter Grothe mit dem Erlöschen der Bürgschaften, sobald die Schützlinge anderweitige Leistungen beziehen. Um so größer war die Überraschung, als das Jobcenter von den Bürgen erfuhr – und diesen plötzlich Rechnungen schickte. Klaus-Dieter Grothe war einer der ersten, der die Rechnungen publik machte: „Rechnet man das hoch, wenn das noch zwei oder drei Jahre geht, kommt man dann auf 50.000 bis 70.000 Euro, mindestens“, sagte er der „Hessenschau“. 

Der Psychotherapeut Breidert-Achterberg bekam vorerst nur eine Zahlungsaufforderung über 500 Euro für den Monatsbeitrag einer Person. Gebürgt hatte er jedoch für vier Personen. „Das können Sie dann ja hochrechnen, was das für alle zusammen in einem Monat bedeuten würde“, sagte er der JUNGEN FREIHEIT. Diskussionsspielraum mit dem Jobcenter gab es nicht. Das Arbeitsamt teilte ihm kurz und knapp mit, daß er den Betrag zahlen und danach bis Ende September einklagen könne. „Wir sind übereingekommen, die Klärung der komplizierten Rechtslage den Gerichten zu überlassen. Warten wir es im Vertrauen auf deutsche Rechtsstaatlichkeit getrost ab.“ Verunsicherung bereitet dem Mediziner allerdings die kurze und knappe Antwort des Innenministeriums. Dort möchte man von den vor wenigen Monaten getroffenen Zusagen nichts mehr wissen und verwies die Bürgen auf eine Gesetzesänderung. Seit Juli 2016 müßten Asylbürgen nun fünf Jahre für ihre Patenschaften haften. 

Verärgert sind die betroffenen Personen vor allem über die ungleichen Regelungen in ihrem Bundesland. In der Nachbarstadt Wetzlar kamen keine Rückforderungen auf die Bürgen zu. Der frühere mittelhessische DGB-Chef Ernst Richter habe dort allerdings gemeinsam mit einem anderen Ehepaar bereits freiwillig einen fünfstelligen Betrag für eine sechsköpfige syrische Familie aufgewendet. 

So weit möchte es Breidert-Achterberg aber nicht kommen lassen, er fordert die Stadt Gießen und das Land Hessen nun zur raschen Handlung auf. Die bürokratischen Mühlen mahlen allerdings langsam, Altfälle werden derzeit vom Jobcenter geprüft. Bis dahin gilt er als Bürge für eine syrische Flüchtlingsfamilie.

Ob der Arzt wieder für Asylbewerber bürgen würde? „Ganz klar, ja!“ bekräftigt er gegenüber der JF. Denn jene verfolgten Menschen aufzugeben hieße für ihn, das „Sozial- und Solidargebot zu verraten“ und auf eine „primitivere Kulturstufe, nämlich der vorchristlichen Urhorden- Gruppeninteressen, zurückzufallen“. 

Einen Migrationshintergrund hätten seiner Meinung nach fast alle Deutschen. Darum hat er sich auch darauf eingelassen, im Notfall mehrere tausend Euro für die Syrer zu bezahlen. Und das muß er nun auch.