© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/16 / 07. Oktober 2016

Bio ist das neue Vaterland
Freiheitsindex: Eine wachsende Zahl von Deutschen sieht die Meinungsfreiheit beeinträchtigt / Sorge um westliche Kultur und Werte
Ronald Gläser

Der Trend bei der Geburtenrate ist gebrochen: Frauen in Deutschland bekommen wieder mehr Kinder. Diese Nachricht sorgte Ende September für einige Schlagzeilen. Für Thomas Petersen kam sie nicht überraschend. Der Projektleiter des Meinungsforschungsinstituts Allensbach führt nüchtern aus: „Ich habe mich nicht gewundert, als diese neuen Zahlen kamen, schließlich mache ich seit Jahren diese Umfrage.“ Kinderkriegen sei mehr „in“ als je zuvor seit 1994, berichtet er.

Überhaupt registriert Petersen ein „Comeback der bürgerlichen Tugenden“. Diese seien ab den sechziger Jahren unter Druck geraten und bis in die neunziger Jahre hinein auf dem Rückzug gewesen. Doch inzwischen habe sich längst eine Trendwende vollzogen, so der Meinungsforscher.

Deutsche fordern                  soziale Gleichheit ein

Gefragt nach den Dingen, die Eltern ihren Kindern beibringen sollten, antworten diese Dinge wie: Höflichkeit und gutes Benehmen (91 Prozent), Eigenverantwortung (91), Durchhaltevermögen (81) oder Sparsamkeit (69). Nur 29 Prozent sagen, es sei wichtig, das Interesse der Kinder für Politik zu wecken. Damit stehen Tugenden wie Höflichkeit heute sogar höher im Kurs als vor 50 Jahren. Auch die gesunde Lebensweise als Erziehungsziel ist stark gestiegen. Anpassungsfähigkeit an die bestehende Ordnung ist dagegen nicht mehr so wichtig wie 1966.

Das korrespondiert mit den weniger erfreulichen Aspekten des diesjährigen Freiheitsindexes Deutschland 2016, für den diese Daten erhoben worden sind: Der Konformitätsdruck steigt. Die Regierung zwingt private Firmen wie Facebook zu Zensurmaßnahmen. Regierungskritische Aussagen im Netz werden verdammt, selbst wenn sie nicht gegen Gesetze verstoßen. Das alles führt dazu, daß mehr Bürger denn je die Befürchtung äußern, die eigene politische Ansicht könne nicht mehr frei geäußert werden (28 Prozent). Die Zahl derjenigen, die sich nicht beeinträchtigt fühlen, liegt bei 57 Prozent, dem niedrigsten Wert seit Beginn der Messung. 1990 waren es fast 80 Prozent. Zu den Einschränkungen der Rede- und Meinungsfreiheit gesellt sich eine wachsende Sehnsucht nach Gleichheit. So nahm im Vergleich zum Freiheitsindex 2015 die Forderung nach Verboten zu. Ebenso stieg das Verlangen nach Gleichheit – als Gegensatz zur Freiheit. Auf lange Sicht bevorzugt eine knappe Mehrheit der Deutschen die Freiheit vor der Gleichheit. Doch mit dem jüngsten Anstieg liegen beide Lager jetzt gleichauf bei 44 Prozent. Petersen vermutet, daß „die Deutschen mit größerer Vehemenz als noch zu Beginn des Jahrhunderts soziale Gleichheit einfordern“.

Insgesamt steigt der Freiheitsindex jedoch auf den höchsten jemals gemessenen Wert. Die Zahl derjenigen, die der Aussage zustimmen, jeder sei seines Glückes Schmied, ist gestiegen. Vor allem aber orientiert sich die Berichterstattung einiger Leitmedien wie Spiegel und FAZ, die in die Berechnung des Index einfließt, wieder mehr an der freiheitlichen Perspektive. 2014 war dieser Teilindex auf einem Tiefpunkt angelangt. Die politische Debatte drehte sich seinerzeit vor allem um Verbotsthemen wie Mietpreisbremse oder Mindestlohn.

Besondere Beachtung schenkten die Autoren der Studie diesmal den westlichen Werten. Dabei fanden sie heraus, daß antiamerikanische oder antikapitalistische Ansichten längst nicht so stark vertreten sind, wie zunächst vermutet, so Petersen.

Besonders interessant ist eine Frage, die nach Religionszugehörigkeit (Katholiken, Protestanten, Atheisten) aufgeschlüsselt wurde: Die Befragten wurden mit einem kapitalismuskritischen Zitat von Papst Franziskus („Diese Wirtschaft tötet“) konfrontiert. Die geringste Zustimmung dazu fand sich unter Katholiken (26 Prozent) – wenn das Zitat ohne Quellenangabe vorgelegt wurde. Dies änderte sich, wenn der Urheber genannt wurde (37 Prozent), und die Zustimmung übertraf die der Protestanten (31 bzw. 32 Prozent), für die die Urheberschaft keine nennenswerte Rolle spielt. Noch viel drastischer fiel dieser Zuwachs jedoch bei Atheisten aus, deren Zustimmung von 30 auf 46 Prozent stieg, als sie die Quelle erfuhren.

Noch deutlicher wird die Beeinflussung von Positionen bei der Frage, was als „in“ oder „out“ angesehen wird. Hier geht es nicht um die persönliche Einstellung der Befragten, sondern um das gesellschaftliche Klima. Kein Wunder, daß bei dieser Frage der Zeitgeist voll zuschlägt: „In“ sind demnach zum Beispiel Bioprodukte (92 Prozent), Umweltschutz (84) und vegetarisches Essen (84). „Out“ sind hingegen Patriotismus (37 Prozent), Rauchen (62), Hausfrau sein (71).

Diese Zahlen zeigen, was die Befragten für die Mehrheitsmeinung halten – nicht, was wirklich ist. Schließlich gibt es wesentlich mehr Raucher, Patrioten und Alleinverdiener-Ehen in Deutschland als Vegetarier oder Biomarkt-Kunden (Marktanteil: vier Prozent). Doch letztere liegen im Trend, die anderen nicht. Und bis solche Trends gebrochen sind, vergehen oft Jahrzehnte, wie das Beispiel der bürgerlichen Tugenden zeigt.