© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/16 / 07. Oktober 2016

Überarbeitung führt zum Aussterben
Südkorea: Der anhaltende Gebärstreik ist auch eine Folge des Wirtschaftswachstums / Firmen verlangen totalen Einsatz ihrer Belegschaften
Albrecht Rothacher

Vor 25 Jahren wagte sich der südkoreanische Konzern Hyundai auf den deutschen Automobilmarkt. Das Einstiegsmodell Pony war keine ernstzunehmende Konkurrenz für die Platzhirsche Golf, Kadett und Escort oder Fiat Tipo, Renault 19 und Toyota Corolla. Der koreanische Kompaktwagen ließ sich von den wenigen Händlern nur über attraktive Preisnachlässe verkaufen. Die Fernseher und Videorecorder der Marke „Lucky Goldstar“ waren keine Alternative zu Markenprodukten von Grundig, Loewe, Philips, Sony & Co.

Doch wer damals noch gelacht hat, dem ist dies längst vergangen. Fast eine Million Hyundais fahren inzwischen auf deutschen Straßen – allein 2015 wurden 108.434 Neuwagen abgesetzt, der Marktanteil liegt mit 3,8 Prozent klar vor Renault (3,1), Fiat (2,7) und dem Autoweltmeister Toyota (2,4). Grundig ist nur noch eine türkische Marke, Philips und Sony haben ihr Heimelektronikgeschäft ausgegliedert. Siemens und Nokia mußten ihr Mobiltelefongeschäft einstellen, während Samsung klar vor Apple liegt und Weltmarktführer ist. Lucky Goldstar heißt längst LG und ist unangefochtener Marktführer bei modernen OLED-Bildschirmen.

Bei der Wirtschaftsleistung nur noch knapp hinter Japan

Mit einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 27.195 Dollar jährlich liegt Südkorea nur noch knapp hinter Japan (32.486) und Italien (29.867) sowie klar vor Taiwan (22.288), Rußland (9.055) und China (7.990). Allenfalls die militärische Bedrohung aus dem kommunistischen Nordkorea könnte den Durchmarsch Richtung Weltspitze noch verhindern. Doch die ostasiatische Wirtschaftslokomotive könnte bald aus einem anderen Grund ins Stottern kommen: Südkorea stirbt aus. Nach einem aufsehenerregenden Bericht des Parlaments in Seoul ist es im Land der Morgenröte spätestens im Jahr 2750 so weit. Von 50 Millionen heute wird die Einwohnerzahl auf 40 Millionen im Jahr 2056, auf zehn Millionen anno 2136 und schließlich fünf Millionen im Jahr 2172 abstürzen – wenn nichts Entscheidendes passiert. Seit 15 Jahren hält Korea – zusammen mit Griechenland, Spanien und Singapur – mit 1,2 Kindern pro Frau den Niedrigrekord der Gebärstatistik. 2,1 Kinder wären für eine stabile Bevölkerungsentwicklung nötig, in den Millionenmetropolen wie Seoul und Pusan ist die Geburtenzahl schon unter ein Kind je Frau gerutscht.

Noch 1960 gebar jede Südkoreanerin im Schnitt sechs Kinder, 1970 waren es noch 4,5. Eine Million Säuglinge wurden damals geboren, heute sind es weniger als die Hälfte. Bis 1996 betrieb die Regierung eine Geburtenkontrollpolitik. Die Kleinfamilie wurde als Zukunftsmodell gepriesen, Mehrkinderfamilien als Weg in die Armut stigmatisiert. Für Entbindungen ab dem dritten Kind durften Krankenkassen nicht zahlen. Wer sich als Jungmann sterilisieren ließ, wurde vom Wehrdienst befreit. In der damaligen Wachstumspolitik gab es für Sozialausgaben ohnehin kein Geld.

Südkorea hat sich seit dem Ende des verheerenden Koreakriegs 1953 von einem Armenhaus und Auswanderungsland zu einem der reichsten Länder Asiens entwickelt. Lebten 1955 noch drei Viertel der Bevölkerung von der Landwirtschaft auf den Dörfern, war es vierzig Jahre später genau umgekehrt: 75 Prozent lebten als Industriearbeiter und Angestellte in den überfüllten Großstädten. Von der einstigen Kolonialmacht Japan hat es auch dank seines konfuzianischen Erbes sowohl die Stärken als auch die Schwächen kopiert: privilegierte Großkonzerne, die für den Export wirtschaften, eine ultramodernen Infrastruktur, eine ungeheure Bildungsbeflissenheit, eine starke soziale Hierarchisierung, Disziplinierung, Fleiß sowie lange Arbeitszeiten und Hingabe für den Betrieb. All dem wurde aber das Familienleben geopfert.

Importbräute aus China, den Philippinen und Vietnam

Die Folgen von Abwanderung und Überalterung sind auf dem Lande dramatisch. Seit 1982 wurden 4.000 Schulen geschlossen. Wer geht, kommt, außer fürs jährliche Ahnengedenken, nie zurück. Mit ihren vom Unkraut überwucherten Feldern und Gebäuden ähneln viele Bergdörfer Geisterstädten. Wegen des besseren Lebens in der Stadt finden die verbliebenen Bauern keine Bräute mehr – diese werden nun aus China, den Philippinen und Vietnam „importiert“.

Ein doppelter Kulturschock ohne Liebe: Die Bräute erleben kein schönes Leben im reichen Korea, sondern harte Bauernarbeit in einer unverständlichen Sprache. Den Bräutigam stören die Sprachlosigkeit seiner Frau, ihre Schwierigkeiten mit der Verwandtschaft und die Zahlungsverpflichtungen an ihre Familie. Aber: Gut die Hälfte der wenigen südkoreanischen Kinder werden künftig solchen Gemischtehen entstammen.

Seit 15 Jahren sind die Hälfte der Hochschulabsolventen Frauen. Sie heiraten Ende Zwanzig und bekommen ihr einziges Kind mit Anfang Dreißig. Dann erhalten sie drei Monate Mutterschutzurlaub und zehn Monate unbezahlten Erziehungsurlaub – den jedoch so gut wie niemand nimmt. Warum? Weil es die Karriere tötet und eine enorme Schuldenlast die Ehepaare drückt: Im Schnitt sind es 160 Prozent des verfügbaren Einkommens: Hypothekenschulden für den Wohnungskauf, Schulden für die Studiengebühren, Kreditkartenschulden, Bildungsausgaben für den eigenen Nachwuchs und die moralischen Zahlungsverpflichtungen des Sohnes für seine alten Eltern. Obwohl das Rentenalter auf 60 Jahre angehoben wurde, schicken südkoreanische Firmen ihre Mitarbeiter oft mit 57 in den Ruhestand. Die Lebenserwartung ist aber auf 80 Jahre für Männer und 85 für Frauen gestiegen. Da die Renten mickrig sind, sind Zusatzeinkommen unverzichtbar – 38 Prozent stammen aus eigener Arbeit, 30 Prozent aus Zuwendungen der Kinder. 

Gleichzeitig gilt ein männlicher Stammhalter immer noch als Ideal. Und wenn nur ein Einzelkind erwünscht ist, wird der weibliche Fötus – wiewohl illegal – oft abgetrieben. 110 Knaben kommen deshalb auf 100 Mädchen. Für jenes Kind, wird ein irrer Bildungsaufwand getrieben: von der besten Kinderkrippe über die prestigereichste Uni – idealerweise gleich in den USA – in das gut bezahlende Spitzenunternehmen. Allein 28.000 private Nachhilfeschulen (Hagwon) gibt es in Seoul. Die Wochenenden werden mit englischer Konversation und Klavierunterricht gefüllt. Pro Familie kostet dies umgerechnet 300 Euro im Monat. 6,7 Prozent des Einkommens werden für Bildung aufgewendet – in Deutschland sind es nur ein Prozent. In internationalen Vergleichstests liegen die Südkoreaner im Lesen, Rechnen und in den Naturwissenschaften weit vorne. Doch beim rauhen zweijährigen Wehrdienst, der an der 250 Kilometer langen Waffenstillstandslinie unter Kriegsbedingungen abläuft, brechen dann viele der verwöhnten Jünglinge zusammen.

Zehn Prozent der Arbeitsplätze werden von den Jaebeol – großen Industriekonglomeraten wie Samsung, Hyundai, Daewoo, LG, SK (ehemals Sunkyung) und Lotte – gestellt. Sie erwirtschaften 40 Prozent des BIP, bezahlen gut und verlangen den totalen Einsatz ihrer Belegschaften. So arbeiten die Südkoreaner 2.300 Stunden im Jahr, im OECD-Schnitt sind es nur 1.700 Stunden. Überstunden und Wochenendarbeit sind normal.

Um befördert zu werden, sollte man nicht vor dem Chef nach Hause gehen und abends mit den Kollegen trinken. 85 Prozent arbeiten aber bei Kleinunternehmen und Mittelständlern. Dort wird zwar auch lange gearbeitet, doch wesentlich unproduktiver und schlechter bezahlt. Daher liegt die Gesamtarbeitsproduktivität Südkoreas nur bei 66 Prozent des OECD-Durchschnitts aller Industrieländer.

Wiedervereinigung kostet geschätzt 2,4 Billionen Euro

Seit 2010 liegt das Wirtschaftswachstum nur noch bei zwei bis vier Prozent. Mit der Überalterung wird es sich ab 2020 weiter verflachen. 13 Prozent der Bevölkerung sind jetzt über 65 Jahre. In zehn Jahren werden es über 20 Prozent sein. Zwischen dem Hochtechnologieland Japan und der billigen Massenproduktion Chinas kommt das Land in die Zwickmühle: zu stark sind die Jaebeol auf Großserien wie Pkws, Elektronik, Stahl und den Schiffbau konzentriert.

Dienstleistungen, der Finanzsektor, die Pharmazie und Biotechnologie wurden bislang durch Überregulierungen abgewürgt. Echte Innovationen haben in den bürokratischen Jaebeol, die die Forschungshaushalte kontrollieren, kaum eine Chance. Und es beginnt an Arbeitskräften zu mangeln. Produktivität und Innovation stagnieren. Niedrigwachstum und Reformfeindlichkeit greifen um sich. Die Sozialausgaben steigen. 

Nur mühsam hat sich die Politik dem demographischen Problem jenseits wohlfeiler Parolen zugewandt. So gibt es unter der unverheirateten und kinderlosen Präsidentin Geun-hye Park zusätzliche Subventionen für Kinderkrippen und Kindergärten. 150 Euro wurden als Geburtenprämie ausgelobt. Ab dem dritten Kind wird ein Kindergeld von 180 Euro im Monat gezahlt. All dies brachte aber vorhersehbar nichts.

Könnte aber nicht die Wiedervereinigung mit den 22 Millionen jungen und hungrigen Landsleuten des abgewirtschafteten Nordens das demographische Problem auf einen Streich lösen? Vielleicht – aber bei geschätzten Kosten von 2,4 Billionen Euro, dem Doppelten der deutschen Wiedervereinigung, und dem Dreifachen der jährlichen Wirtschaftsleistung hat das auch eine Schattenseite. Und sind nicht in Mitteldeutschland wie in allen Ländern des vom Kommunismus befreiten Mittelosteuropa als allererstes die Geburtenraten eingebrochen?

OECD-Wirtschaftsbericht zu Südkorea:  www.oecd.org

OECD-Statistiken zur Geburtenrate:  data.oecd.org