© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/16 / 07. Oktober 2016

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Stutzen bei der Lektüre von Heinrich Pudors (Pseudonyme „Heinrich Scham“ und „Ernst Deutsch“) Autobiographie. Pudor war seines Zeichens begnadeter Cellist, Wagnerianer, Vorkämpfer des Jugendstils (ein entsprechendes Buch wird nach wie vor gedruckt), Verleger (vor allem der eigenen Werke), produktiver Schreiber, Lebensreformer, Vegetarier (zeitweilig Anhänger des „Nichtessens“), von Magnus Hirschfeld wegen seiner Thesen zur natürlichen Bisexualität gelobt, Impfgegner, Lobbyist des Mittelstands, Gottsucher bei permanenter Desorientierung (vom traditionellen Christentum zum Monismus, dann zum liberalen Protestantismus, zurück zum traditionellen Christentum, von da zum „Deutschen Glauben“), Verschwörungstheoretiker, rabiater Antisemit, Völkischer, im Herbst 1933 wegen seiner Kritik am NS-Regime für einige Monate in Schutzhaft, und zeit seines Lebens Anhänger von „Freikörperkultur“ samt „Freier Liebe“. Angesichts dessen zögert man, die Bemerkung als Scherz zu betrachten, daß er nach der zweiten Scheidung erwogen habe, seine Tochter zu heiraten, weil das bei den Germanen auch vorgekommen sei.

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Die britischen Sicherheitsbehörden haben ein Konzept zum Schutz der religiösen Einrichtungen des Landes entwickelt und nicht nur empfohlen, sie von Polizeikräften bewachen zu lassen, sondern auch Verhaltensregeln für Geistliche der anglikanischen wie der katholischen Kirche vorgelegt. Denen zufolge sollen Priester grundsätzlich darauf verzichten, in der Öffentlichkeit mit dem „römischen Kragen“ zu erscheinen. Auf Nachfrage wurde erklärt, daß man sicher nicht als Amtsträger von Westminster Abbey mit einer Attacke rechnen müsse, aber als Pfarrer einer kleinen Gemeinde in Birmingham oder Bolton schon.

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Bei der Messe zu Ehren von Pater Hamel, der einem islamistischen Attentat zum Opfer fiel, hat Papst Franziskus eine Andacht gehalten, in der er den Ermordeten in die Tradition der Märtyrer der frühen Christenheit stellte. Ohne Zweifel eine angemessene Würdigung. Um so irritierender der Satz, daß „alle Religionen sagen: ‘Töten im Namen Gottes ist teuflisch’.“

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Was auch immer die Verantwortlichen bewogen hat, den Schirrmacher-Preis an Michel Houellebecq zu verleihen, Naivität war es nicht. Eher darf man jenes typische Sondieren des juste milieu annehmen, das Witterung aufnimmt, um festzustellen, woher der Wind weht.

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Das von der schwedischen Regierung in Umlauf gebrachte Werbefilmchen „Das neue Land“ – „det nya landet“ – ist ein bemerkenswertes Beispiel für die inhaltliche Leere multikultureller Propaganda. Das heißt, es gibt kein einziges vernünftiges Argument – Arbeitskräfte, Rentenzahler, Bevölkerungsersatz – für das Projekt, nur reine Ideologie: das, was kommt, kommt unausweichlich, trotzdem geht es darum, das, was kommt, zu bejahen und sich – auch und vor allem als Autochthoner – in etwas zu integrieren, das „stolz, inkludierend und stabil“ ist.

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Vier Meldungen an einem Tag: Die Commerzbank wird 9.600 Stellen streichen; der neue Präsident des Bundessozialgerichts, Rainer Schlegel, erklärt im Hinblick auf die Einwanderung in unsere Sozialsysteme: „Ich sehe (…) keinen Zustand, bei dem irgend etwas an die Wand gefahren wäre“; das Wirtschaftsministerium warnt davor, daß mittelfristig die Hälfte des Bruttoeinkommens in die Sozialkassen fließen wird; der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Ralph Brinkhaus, bezeichnet die Abstiegsängste der Mittelschicht als Form von Wirklichkeitsverlust.

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Bildungsbericht in loser Folge XCIII: Man würde die Klage Julian Nida-Rümelins über den „Akademisierungswahn“ mit sehr viel mehr Sympathie hören, wenn er nicht so ungeniert konservative Argumente kopierte, die er dann mit einem kleinen egalitären Spin – alle Berufe sind gleichwertig – versieht.

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Das Gedenken an die Massaker von Babyn Jar und die „deutsche Schuld“ (der Bundespräsident), das sicher kein einmaliges bleiben wird, steht so unmittelbar vor dem 3. Oktober, daß man um der seelischen Verfassung der Nation willen an eine Verlegung des Feiertags denken sollte.

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Das Magazin Nature hat einen Artikel veröffentlicht, der sich mit der Ausbreitung der Hauskatze beschäftigt. Zu den Ergebnissen gehört, daß offenbar auch hier der Übergang zur Seßhaftigkeit und Landwirtschaft eine entscheidende Rolle spielte: Die Lagerung von Getreide und anderen Vorräten lockte Nager an, die lockten Wildkatzen an, die sich vom Nahen Osten und Ägypten rasch nach Afrika und in den eurasischen Raum ausbreiteten. Die deutschen Hauskatzen gehen übrigens nicht nur auf die römische Besetzung zurück, sondern auch auf „Wikingerkatzen“, also diejenigen Tiere, die die Nordmänner auf ihren Schiffen mitführten, um sie mausfrei zu halten.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 21. Oktober in der JF-Ausgabe 43/16.