© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/16 / 07. Oktober 2016

Sein Plan änderte nichts an der Übermacht der Feinde
Wilhelm Pantenius hat eine imposante Biographie des preußischen Generals und Militärstrategen Alfred Graf von Schlieffen vorgelegt
Franz Uhle-Wettler

Das Buch von Wilhelm Pantenius „Alfred Graf von Schlieffen“ ist aus mehreren Gründen be-merkenswert. Es ist „dem Andenken an den preußisch-deutschen Generalstab“ gewidmet und in einem Privatbrief bezeichnet Pantenius es als Beitrag zur „vaterländischen“ Geschichte. Solche Töne gebrauchen oft Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind. Dort wurde die Beurteilung der deutschen Geschichte von der Ansicht Stalins bestimmt, die Deutschen seien von „den Hitler“ verführt worden. Zudem hat das Buch über tausend Seiten. Das könnte zu dem Schluß führen, das Buch sei zu lang und wohl auch langweilig. Aber das täuscht. Das Buch besticht durch Ausführlichkeit. 

Eingangs schildert der Verfasser das geistige Umfeld, in dem Alfred Schlieffens Vorfahren und alle Offiziere seit etwa 1750 arbeiten. Alfreds Großvater war Offizier und diente meist nahe dempommerschen Kolberg, der Heimat der Schlieffens. Bei der Darstellung des Lebens der Vorfahren schildert der Verfasser auch ausführlich und überzeugend das „geistige Klima“, in dem diese Generation lebte und wirkte, also den Absolutismus. Das Buch wird so zu einem Gemälde der deutschen Gesellschaft jener Zeit. Später schildert der Verfasser ebenso überzeugend das geistige Klima folgender Generationen, also Biedermeierzeit sowie Romantik und dabei den Pietismus. 

Junger preußischer Adliger im Geiste des Pietismus

Der Pietismus wurde nach Friedrichs des Großen Tod zu einer umfassenden Bewegung, die vor allem von der Herrnhuter Brüdergemeinde verbreitet wurde. Sie wandte sich gegen einen Rationalismus, der alles und jedes mit Hilfe der Vernunft erklären wollte, und forderte sowie förderte das Innig-Religiöse. Wie stark dieser Einfluß war, zeigt das Wirken von Johann Wöllner, der 1788 in Preußen für alle Kirchen- und Kulturangelegenheiten zuständig wurde. Schon Graf Magnus; der Vater Alfred Schlieffens, war vom Pietismus beeinflußt. Auch dessen Ehefrau und Schwiegermutter hatten enge Verbindungen zu den Herrnhutern und ließen Alfred von einem solchen Pfarrer taufen. Bei der Schilderung jener Jahrzehnte wird das Bedauern des Verfassers deutlich, daß nach 1815 reaktionäre Kräfte eine wesentlich stärkere Beteiligung des Volkes an der Regierung verhindert haben. 

Alfred Graf Schlieffen wurde am 28. Februar 1833 geboren. Das als Faksimile abgedruckte Taufregister zeigt die Namen der Taufzeugen. Es waren 13 Grafen. Nun der 14. war ein Bürgerlicher – der Pfarrer. Als Alfred neun Jahre alt war, gaben ihn die Eltern in das Internat der Herrnhuter in Niesky (Lausitz) Alfred erhielt gute Noten in Geschichte, Latein und Griechisch. Ungewöhnlich war, daß zusätzlich auch Turnen, Körperertüchtigung und lange Märsche gefordert wurden. 1847 war die Zeit in Niesky beendet und Alfred, nun 15 Jahre alt, wurde am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin eingeschult, 1848 zwang die Revolution auch die Schlieffens und deren Verwandte zur Flucht nach Potsdam. Erst nach Ende der Kämpfe in Berlin konnte auch Alfred zurückkehren. Zweifellos hat 1848 sein im Herrnhuter Christentum wurzelndes Denken bestätigt. Vaterland sowie Thron und Altar waren und bleiben danach für ihn Leitsterne. 

Am 1. April 1853 beginnt Alfred seinen Wehrdienst im 2. Garde-Ulanenregiment. Nach kurzem Schwanken entschließt er sich für eine Laufbahn als Offizier. 1854 wird er Leutnant und stellt sich der Auswahl für die „Allgemeine Kriegsschule“ in Berlin. Die dreijährige Ausbildung an dieser Schule diente der Vorbereitung für den Dienst im Generalstab. Der Verfasser schreibt, nur fünf Prozent der Bewerber hätten die Aufnahmeprüfung bestanden und setzt so wahrscheinlich nur einen alten Irrtum fort. Jedenfalls bestand Alfred die Prüfung. Eine seiner obligatorischen Jahresarbeiten war so vorzüglich, daß sie sogar Moltke vorgelegt wurde. Moltke sprach ihm 1861 seine Anerkennung aus uns bot ihm an, später in der Topographischen Abteilung zu dienen. Das war ein Lob. Man wußte, daß Napoleon seine Siege auch seinen ausgezeichneten Karten verdankte. Folglich wurde die Herstellung von Karten in Preußen so wichtig, daß die deutsche Kartographie zur besten der Welt wurde. Nach 1862 diente Alfred zeitweise in dieser Abteilung.

Auch in die Schilderung dieser Jahre flicht der Verfasser wichtige „Kleinigkeiten“ ein. So die geringe Bezahlung der Offiziere, die mindestens bis zum Hauptmann eine Geldunterstützung notwendig machte. Er berichtet, wie viele Kilo Hafer und Heu jedes der 100.000 Pferde der preußischen Armee täglich brauchte; im Winter 1870/71 war bei der Belagerung von Paris der Futterbedarf nur mühsam tu erfüllen. Und wer weiß heute, daß 1860 jeder Preuße mit 8 Talern jährlich belastet wurde, aber jeder Franzose mit 12 und jeder Engländer mit 16 Talern?

Aus den Jahren, bis Alfred Schlieffen in die Spitze der Armee aufstieg, ist vor allem die Heirat mit Anna Gräfin Schlieffen wichtig. Alfred hatte sie bereits kennengelernt, als sie noch ein Kind war. 1866 haben sie sich offiziell verlobt. Doch damals konnte ein Offizier frühestens als älterer Hauptmann oder Major finanziell auf eigenen Füßen stehen. So konnten sie erst 1869 heiraten. Sicher ist, daß eine tiefe Liebe sie miteinander verband, verstärkt durch ihre Wurzeln im Pietismus. 1869 kam Elisabeth zur Welt, 1872 folgte Marie. Aber schon am folgenden Tag fieberte Anna, und am 13. Juli starb sie. Alfred, damals erst 40 Jahre alt, konnte Annas Tod innerlich nie verwinden und blieb Witwer. 

In den nächsten Jahren folgten für Alfred Verwendungen als Kommandeur von Truppen und in Stäben. 1886 wurde er Generalmajor und schon 1888 Generalleutnant – damit war der Titel Exzellenz verbunden. Die positiven Beurteilungen überwogen mehr und mehr, und am 7. Februar 1891 wurde Generalleutnant Alfred Graf Schlieffen Chef des Großen Generalstabes. Nun war seine wichtigste Aufgabe, den Plan festzulegen, nach dem der nächste Krieg zu führen sei. 

Wie schwierig das war, zeigen die damit verbundenen Aufgaben. Die politische Entwicklung mußte bedacht werden: Wer wird Freund und wer wird Feind sein? Wie wird sich die Technik entwickeln, vor allem Telegraph und Funk? Wie wird der Bau von neuen Eisenbahnen vorankommen und wie rasch werden deshalb die Heere kampfbereit aufmarschiert sein? Werden sie versorgt werden können, wenn Gleise oder Brücken zerstört sind? Wie wird sich der Festungsbau auswirken? Wie die Entwicklung von Waffen und Munition, dabei das rauchlose Pulver für Gewehre und Maschinengewehre? Alle diese Fragen mußten für den eigenen Staat, für Verbündete und auch mit Hilfe von Spionen für Kriegsgegner beantwortet werden. Nach Lösung dieser Fragen mußte Schlieffen den deutschen Kriegsplan prüfen oder einen neuen entwickeln und Änderungen im deutschen Heer durchsetzen.

Frankreich als schwächster künftiger Kriegsgegner

Die Entwicklung zum „Schlieffenplan“ begann mit der Abwendung von Moltkes Plänen. Moltke wußte, daß Rußlands und Frankreichs Heer jeweils allein schon mindestens so stark wie die deutschen Heere sein würde. Aber er wollte zuerst gegen Rußland offensiv werden. Doch zwei Faktoren führten Schlieffen zur Änderung. Einmal der Bau neuer russischer Eisenbahnlinien. Noch wichtiger war die Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen. Die Gründe lagen auf dem Balkan sowie im Südosten Europas, mithin im Einflußbereich Österreich-Ungarns. Eine kraftvolle deutsche Politik hätte das korrigieren können. Sie wurde jedoch zunehmend und ab 1909 entscheidend durch Reichskanzler von Bethmann-Hollweg bestimmt. Ihn kennzeichnet ein Gedicht, das er als 21jähriger Jüngling verfaßte. Er schließt: „Kälter und kälter wird’s im Herzen / Traurig blick in die Welt ich hinein / Bittrer und bittrer werden die Schmerzen / Möchte wohl lieber im Grabe sein“. Vom Willen, das eigene Schicksal zu gestalten, ist nichts zu spüren. Ebenso hat er als Reichskanzler gehandelt. Er blieb tatenlos mindestens in der Außenpolitik. 

Der Kriegsplan Deutschlands mußte deshalb weiterhin annehmen, daß Rußland und Frankreich mit englischer Unterstützung Kriegsgegner sein würden. Jeder einzelne von ihnen war jedoch stärker als die deutschen Armeen. Ein langer Krieg ließ sich nur vermeiden, wenn das deutsche Heer sich bei Kriegsbeginn sofort auf einen der Kriegsgegner warf und ihn entscheidend sowie dauerhaft schwächte. Das konnte offensichtlich nur Frankreich sein. Gegen Rußland mußte das mit schwachen Truppen verbundene Risiko in Kauf genommen werden. So entstand der Schlieffenplan, in unterschiedlichen Entwicklungsstufen. Auch seine Kritiker haben keinen besseren Plan entwerfen können. Dennoch ist der Plan 1914 gescheitert. Aber die Gründe lagen nicht bei Schlieffen, der am 1. Januar 1906 als Generaloberst verabschiedet worden war und 1913 starb. 

Wer sich für ein Gemälde der Gesellschaft und des Denkens in Deutschland zwischen 1750 und 1900 interessiert, sollte dieses Buch zur Hand nehmen. Das gilt besonders auch für die Militärgeschichte dieser Zeit, deren ausführliche Darstellung im Buch von Pantenius diese Rezension kaum andeuten kann. Sicherlich kann man manches Urteil des Verfassers fragwürdig finden. Aber stets begründet Pantenius sein Urteil. Mithin kann man jedem, der sich für die erwähnten Themen interessiert, dieses  Buch mit gutem Gewissen empfehlen.






Dr. Franz Uhle-Wettler, Generalleutnant a. D., ist Militärhistoriker und war Leiter des Nato Defence College in Rom. Er ist unter anderem Autor des Buches „Der Krieg. Gestern, heute und wie morgen?“ (Ares Verlag, Graz 2015).