© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/16 / 07. Oktober 2016

Knapp daneben
Spirituelle Energie
Karl Heinzen

Ein Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung und 48.000 Euro Schadenersatz. Auf dieses Urteil des Amtsgerichts Hamburg muß sich eine 53jährige Hellseherin gefaßt machen, die des Betrugs bezichtigt wird. Das Verfahren war durch eine heute 67jährige Schweizerin in Gang gesetzt worden, die die Dienste der Beschuldigten zweieinhalb Jahre lang in Anspruch genommen und dafür insgesamt 322.000 Euro berappt hatte. Die versprochene Leistung schien den Aufwand zu rechtfertigen, auch wenn er sie an den Rand des Ruins zu führen drohte. Der Mann, auf den sie ein Auge geworfen hatte, wollte sich partout nicht zu einer Heirat bewegen lassen. Die Hellseherin jedoch würde ihn über ein „spirituelles Energiefeld“ schon von seinem Glück zu überzeugen wissen.

Die Zusammenarbeit endete jäh, als der ehemaligen Beamtin das Geld ausging. Panisch versuchte die verliebte Pensionärin nun, alles auf eine Karte zu setzen. Statt eines Ja-Wortes mußte sie von ihrem Wunschbräutigam aber vernehmen, daß er seinen anderen Freundinnen nicht den Laufpaß geben wolle.

Hier wird ein Präzedenzfall geschaffen, der auch andere Branchen als die Hellseherei aufhorchen läßt.

So tragisch es für die Schweizerin auch war, daß ihr Lebenstraum zerplatzte, kann der Hellseherin doch kein Vorwurf gemacht werden. Wäre die Bezahlung fortgesetzt worden, hätte sie möglicherweise Erfolg gehabt. Ihre Honorierung war zwar üppig, angesichts der täglichen und oft stundenlangen Telefonate aber keineswegs unangemessen. Die Einnahmen hat sie ordnungsgemäß versteuert. Sie zu verurteilen, widerspricht daher dem allgemeinen Rechtsempfinden. Vor allem aber wird ein juristischer Präzedenzfall geschaffen, der auch andere Branchen als die Hellseherei aufhorchen läßt. Wer als Berater Menschen aus privaten Problemen oder Unternehmen aus Schieflagen heraushelfen soll, muß sich ebenfalls in erster Linie auf seine spirituelle Energie verlassen, da ihm die Zeit und das Wissen fehlen, die stets hochkomplexen Einzelfälle gründlich zu analysieren. Obwohl seine esoterische Dienstleistung eigentlich nicht zu bewerten ist und ein Erfolg zumeist ausbleibt, verlangt er dafür Geld. Muß er nun befürchten, als Betrüger vor Gericht zu landen?