© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/16 / 14. Oktober 2016

„Wir brauchen einen Systemwechsel“
Thomas Mayer, ehemaliger Chefvolkswirt der Deutschen Bank, fordert ein neues Geldwesen zur Lösung der Finanzkrise
Moritz Schwarz

Herr Professor Mayer, „Selbstüberschätzung“, so die „FAZ“, ist der Grund für die schwere Krise, in der die Deutsche Bank steckt. Mangelt es deren Führungspersonal tatsächlich an Verantwortungsbewußtsein? 

Thomas Mayer: Eine offene Gesellschaft braucht Regeln – die sie sich durch freiwillige Übereinkunft ihrer Mitglieder selbst gibt. Unternehmen handeln innerhalb dieser Regeln, und sie geben sich zur Umsetzung ihrer Unternehmensziele eigene Regeln, die mit den gesellschaftlichen harmonieren müssen. Verantwortungsbewußtes Verhalten heißt also, sich an die Regeln zu halten. Aufgabe der Unternehmensleitung ist es, die Einhaltung der Regeln zu überwachen und die im Unternehmen geltenden Regeln an Veränderungen der gesellschaftlichen Regeln anzupassen. Man kann aber von einem Unternehmen nicht verlangen, daß es Änderungen gesellschaftlicher Regeln vorwegnimmt – heute also nach Regeln handelt, die erst morgen gelten.

Sie sehen also keinen moralischen Mangel bei den Chefs der Deutschen Bank?

Mayer: Wie gesagt, wenn wir ein Urteil fällen wollen, ob sich die Führung verantwortungsbewußt verhalten hat, müssen wir sie an den Regeln messen, die galten, als das Führungspersonal gehandelt hat. Mir scheint, daß dies oft nicht berücksichtigt wird. Wenn vor der Finanzkrise Akademiker, deren Theorien die Vorlage für Finanzprodukte gegeben haben, die heute als Giftmüll gelten, mit Nobelpreisen geehrt wurden, kann man Bankern heute nicht pauschal vorwerfen, daß sie diese Produkte damals verkauft haben. Man muß sie für Verfehlungen unter den damals herrschenden Regeln belangen. Dies ist ein ehernes Prinzip der Rechtsprechung. Aber schauen Sie mal nach, wie viele Banker, denen man heute Verantwortungslosigkeit vorwirft, auch rechtskräftig für strafbares Verhalten verurteilt wurden! Es sind herzlich wenige. Ich kann in einer Aufarbeitung der Finanzkrise keinen Sinn erkennen, die es nicht schafft, Personen für Fehlverhalten nach damals geltenden Regeln zu bestrafen, und heute nun Banker nach neuen Regeln, die sich nach der Finanzkrise herausgebildet haben, pauschal verurteilt.

Viele Bürger wünschen sich durchaus eine Bestrafung der Deutschen Bank – notfalls durch US-Gerichte. Kritiker wenden allerdings ein, tatsäschlich sei dies eine Attacke der Amerikaner, um die letzte deutsche Großbank – wie etwa zuvor schon die Schweizer Banken – an die US-Kandare zu nehmen. Besteht diese Gefahr? 

Mayer: In den USA ist es möglich, die Eigner von Unternehmen, also die Aktionäre, für Fehlverhalten von Managern und Mitarbeitern zu bestrafen. Im Finanzsektor hat es sich leider eingebürgert, daß Regierungsbehörden Strafverfolgung androhen, ohne die Schuldfrage vor Gericht zu klären. Ziel ist es, von den Unternehmen in außergerichtlichen Vergleichen hohe Summen zu erpressen. 

„Erpressen“?

Mayer: Ich nenne das Erpressung, weil es sich kein Finanzunternehmen leisten kann, es auf ein Gerichtsverfahren ankommen zu lassen, um sich gegen die Beschuldigung einer Regierung zu wehren. Denn die Kunden würden weglaufen. Also zahlen sie lieber. Viele Wähler finden es gut, wenn sich Regierungsbehörden so Geld beschaffen, um Staatsausgaben zu finanzieren. Sicher ist es in den USA populär, ausländische Unternehmen besonders stark zur Kasse zu bitten. Es kann aber wohl kaum in unserem Sinn sein, daß deutsche Unternehmen mit dem Geld ihrer Aktionäre die US-Staatskasse füllen, wenn sie dazu nicht rechtskräftig verurteilt sind. Noch problematischer wäre, wenn deutsche Steuerzahler eine Bank stützten, die wegen durch US-Regierungsbehörden verhängten Bußen ohne rechtskräftiges Urteil in Zahlungsunfähigkeit geriete. 

Eine starke Bank bedeutet Macht. Ist dies also auch ein Kampf um Macht und Einfluß auf dem Finanzmarkt zwischen Deutschland und den USA? 

Mayer: Die Deutsche Bank wurde 1870 gegründet, um der aufstrebenden deutschen Industrie im In- und Ausland zur Seite zu stehen. Diese Aufgabe hat sie heute noch. Man könnte sich natürlich auf den Standpunkt stellen, die deutsche Industrie brauche heute keine deutsche Bank; schließlich gibt es global tätige US-Investmentbanken, die schon heute für große deutsche Unternehmen tätig sind. Aber im Bankgeschäft zählt Kundennähe, weil Vertrauen eine wichtige Voraussetzung für gute Finanzbeziehungen ist. Die Deutsche Bank hat sich das Vertrauen ihrer deutschen Industriekunden in den beinahe 150 Jahren ihres Bestehens erworben. Das ist nicht so leicht durch ausländische Banken zu ersetzen.

Wieder andere Kritiker fragen: Was bitte ist an der Deutschen Bank noch deutsch? 

Mayer: Ende der achtziger Jahre stieg die Deutsche Bank unter Alfred Herrhausen ins globale Kapitalmarktgeschäft ein. Zwei Gründe waren ausschlaggebend: Erstens waren die Wachstumsaussichten für eine Aktienbank im deutschen Kreditgeschäft begrenzt, weil der deutsche Kreditmarkt von öffentlichen und Genossenschaftsbanken dominiert wird. Zweitens verlangten die deutschen Industrieunternehmen, die selbst immer internationaler wurden, zunehmend Unterstützung am globalen Kapitalmarkt. Um dort schnell präsent zu sein, hat die Deutsche Bank eine britische und eine US-Investmentbank gekauft und Heerscharen angelsächsischer Investmentbanker angeheuert. Vermutlich war der Fehler, zu schnell zu viel erreichen zu wollen. Denn die neuen Mitarbeiter im Kapitalmarktgeschäft fühlten sich der Deutschen Bank oft so verbunden wie Fremdenlegionäre der französischen Nation. Man machte Geschäfte, die kurzfristig Gewinn, langfristig aber hohe Risiken für die Reputation brachten. Die Deutsche Bank braucht also nicht „ethnisch“ deutsch zu sein, sie sollte aber die deutschen Werte auch im Kapitalmarktgeschäft verinnerlichen, die der deutschen Industrie zu globalem Erfolg verholfen haben.

Der Finanzexperte Max Otte meint, es gehe auch darum, die europäischen Banken in das angelsächsische Bankenkonzept zu zwingen. Haben wir es mit einem Kulturkampf zwischen Kontinentaleuropäern und Angelsachsen zu tun? 

Mayer: Das würde ich nicht so sehen. Das Kapitalmarktgeschäft ist nicht kulturell vorbestimmt. Es hat sich in den USA wegen der Einführung des Trennbankenprinzips während der Großen Depression einfach schneller entwickelt. Warum sollten wir dieses Geschäft nicht auch beherrschen? Die US-Investmentbanken wollen uns dieses Geschäft nicht aufzwingen. Im Gegenteil, sie würden ihren europäischen Konkurrenten keine Träne nachweinen, wenn sich diese aus dem Kapitalmarktgeschäft verabschiedeten. Dann hätten sie es ganz für sich. In Wahrheit geht es darum, ob europäische Banken in diesem Segment künftig überhaupt noch eine Rolle spielen werden. Im Finanzsektor ist das Kapitalmarktgeschäft der Bereich mit Zukunftsaussichten. Das Kreditgeschäft wird wohl zurückgehen oder allenfalls stagnieren.

Sie sagen allerdings, das eigentliche Problem, das wir mit dem Bankenwesen haben, liegt in unserem Geldsystem begründet. 

Mayer: Immer noch verstehen zu wenige Leute, daß der größte Teil unseres Geldes – das Giralgeld – von den Kreditbanken durch die Vergabe von Krediten also als privates Schuldgeld geschaffen wird. Nehmen Sie einen Kredit, schreibt die Bank Ihnen den Betrag einfach auf dem Girokonto gut. Die Aktivseite der Bilanz der Bank verlängert sich um die Forderung an Sie aus dem Kreditvertrag, die Passivseite um die Verpflichtung Ihnen gegenüber aus dem für Sie geschaffenen Giralgeld. Dieses System zielt darauf, daß die Schulden steigen, denn ohne sie gibt es kein neues Geld. Immer wieder kommt es so zu Überschuldung, die in Finanzkrisen mündet. Dann braucht das System Inflation, um die hohen Schulden real abbauen zu können. Zu welchen Verzweiflungstaten der Zentralbanken es führt, wenn die Inflation mal ausbleibt, sehen wir an deren heutigen Null- und Negativzinspolitik. 

Kern Ihrer Kritik ist, daß „systemrelevante“ Banken notfalls von den Zentralbanken gerettet werden, daher keine Risiken scheuen und deshalb ungehemmt die Geldmenge vermehren. Zudem: Wenn die Zentralbanken retten, dann ebenfalls durch Vermehrung der Geldemenge. Ergebnis: beständige Blasenbildung. 

Mayer: Seit der Abkoppelung des US-Dollar vom Gold im Jahr 1971 haben sich die Kreditzyklen in unserem Geldsystem immer weiter aufgeschaukelt. Der größte Zyklus endete in der Finanzkrise von 2008/2009. Die Zentralbanken haben den Abschwung mit Niedrigzinsen bekämpft. Doch so gewöhnen sich alle wirtschaftlich Handelnden immer mehr an niedrige Zinsen. Es muß also nicht einmal zu spektakulären Blasen kommen, um die Voraussetzungen für die nächste Finanzkrise zu schaffen. Es genügt, wenn sich alle auf niedrige Zinsen eingestellt haben und diese plötzlich nicht mehr zu halten sind, weil etwa die Inflation wieder steigt. Würden die Zentralbanken dann die Zinsen erhöhen, könnten viele Schuldner ihre Schulden nicht mehr bedienen. Folge: massenweise Zusammenbrüche – Irving Fisher nannte dies „Schuldendeflation“. Diese würde sich zu einer Preisdeflation und Depression der Wirtschaft ausweiten. Da die Zentralbanken dies nicht zulassen könnten, würden sie die Inflation ignorieren müssen und weiter Geld in das System pumpen. Am Ende würden die Bürger das Vertrauen in das von den Zentralbanken gemanagte Geld verlieren. Es käme zu einer großen Geldkrise.

Also brauchen wir nach Ihrer Ansicht einen Wechsel unseres Geldsystems, um so etwas zu verhindern. Würde das aber nicht jetzige Blasen zum Platzen bringen?

Mayer: Im Prinzip halte ich einen sanften Systemwechsel noch für möglich. Ich habe vor ein paar Jahren vorgeschlagen, im Euroraum eine sichere Einlage zu schaffen. Diese Einlage würde dadurch abgesichert, daß die Banken das Giralgeld in dieser Einlage in voller Höhe mit Reservegeld bei der Zentralbank decken. Je mehr solche sicheren Einlagen nachgefragt würden, desto sicherer würde unser Geld. Es gäbe immer weniger über die Kreditvergabe der Banken geschaffenes privates Schuldgeld. Daher würde es weniger gefährlich, wenn schließlich die Zinsen einmal wieder steigen und Schuldner ausfallen. Im Gegensatz zum privaten Schuldgeld würde die sichere Einlage vom Ausfall der Schuldner nicht zerstört. Ich will nicht behaupten, daß wir uns mit der sicheren Einlage krisenfest machen könnten. Aber das Geldsystem würde dadurch robuster und die Krise zum Ende der Niedrigzinspolitik der Zentralbanken kleiner.

Wie genau würde Ihr alternatives System eigentlich funktionieren?

Mayer: Staatliche und private Emittenten würden „Aktivgeld“– also nicht über Kreditvergabe geschaffene Zahlungsmittel – im Wettbewerb miteinander herausgeben. Utopisch? Nun, Sie sollten bedenken, daß es schon Wettbewerber mit dem Kreditgeld gibt: Gold und Kryptowährungen – also im wesentlichen Bitcoin – werden von vielen als Alternativen zu unserem „Fiat-Geld“, dem über Kredite geschaffenen Geld, gesehen. Sollte das Vertrauen in das Fiat-Geld schwinden, werden die Zuflüsse in die vorhandenene Alternativen zunehmen und neue Alternativen entstehen.

Aber weist die Entwicklung des Euro nicht gerade in die völlig andere Richtung!? 

Mayer: Der Euro ist ein von Politikern geschaffenes Kunstgeld im Kreditgeldsystem. Er ist daher zweifach anfällig: Er leidet an denselben Gebrechen wie alles Kreditgeld, und er ist nicht im Bewußtsein der Menschen als Geld historisch verankert. Die Politik reagiert auf diese Schwächen mit immer tieferen Eingriffen. Aber das macht die Sache nur schlimmer. Immer mehr Leute trauen dem Euro nicht mehr, weil sie sehen, wie verzweifelt die Politik sich bemüht, ihn am Leben zu halten. Die Politiker sehen aus wie ein Jongleur, der mit immer mehr Bällen spielt, und jeder weiß, daß er diese irgendwann nicht mehr kontrollieren kann und sie zu Boden fallen.

Die nächste Krise kommt! Was tun? 

Mayer: Drei Möglichkeiten! Erstens: Den Kopf in den Sand stecken. In meiner neuen Kölner Wahlheimat gibt es dazu den Spruch: „Et hätt noch immer jut jejangen.“ Dann verhält man sich wie ein Truthahn, der sich freut, immer gut gefüttert zu werden, und dann zu Erntedank aus allen Wolken fällt. Zweitens: Auf den Crash spekulieren. Man kann aber nicht sagen, wann und wie das Ende kommen wird. Vielleicht ist es schon nah, vielleicht dauert es noch sehr lange. Stellt man sein ganzes Leben auf den kommenden Crash ab, verpaßt man es vielleicht. Drittens: Sich robust aufstellen. Man rechnet mit dem Crash, auch wenn man nicht weiß, wann und wie er kommt. Daher entsagt man nicht allen Lebensfreuden und sitzt nur im Bunker, sondern handelt so, daß man die Schläge, die der Crash austeilen wird, einstecken kann und nach vorübergehenden Verlusten wieder zur alten Stärke zurückfindet. 






Prof. Dr. Thomas Mayer, war Chefberater der Deutschen Bank und als Nachfolger von Norbert Walter von 2010 bis zu seinem freiwilligen Rückzug 2012 deren Chefvolkswirt sowie Leiter von Deutsche Bank Research. Bereits seit 2002 ist Mayer für das größte deutsche Kreditinstitut tätig, zunächst als dessen „Chief European Economist“ und als „Co-Head of Global Economics“ in London. Der 1954 im schwäbischen Backnang geborene Volkswirt und Konjunkturforscher begann am Institut für Weltwirtschaft in Kiel, arbeitete für die Bankhäuser Salomon Brothers und Goldman Sachs und war in verschiedenen Funktionen beim Internationalen Währungsfonds (IWF) in Washington tätig. 2013 erschien sein Buch „Europas unvollendete Währung. Wie geht es weiter mit dem Euro?“, von dem die Welt am Sonntag wünschte,  „die Politiker würden es mit in den Urlaub nehmen“. 2014 erschien:„Die neue Ordnung des Geldes. Warum wir eine Geldreform brauchen“, das das heiße Eisen eines Geldsystemwechsels anpackt. Und 2016 „Die neue Kunst, Geld anzulegen. Mit Austrian Finance zum besseren Portfoliomanagement“.

Foto: Bankenkurse an der New Yorker Börse: „Die neuen Mitarbeiter im Kapitalmarktgeschäft fühlten sich der Deutschen Bank oft so verbunden wie Fremdenlegionäre der französischen Nation“

 

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