© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/16 / 14. Oktober 2016

Pankraz,
Ferris Jabr und die Macht der Mikroben

Allmählich wird es ungemütlich: Immer mehr „Ethno-Biologen“, wie sie sich nennen, Raffi Khatchadourian in Armenien, Ferris Jabr in New York, bei uns in Deutschland Bernhard Kegel, sprechen über die „Weltherrschaft der Mikroben“. Nicht uns Menschen mit unseren Supergehirnen und unseren hochkomplexen Gesellschaften habe die natürliche Evolution als Ziel  im Visier, sondern die Welt der Mikroben. Nicht wir Menschen seien heute die Herren der Welt, sondern die Mikroben. Der Mensch sei, genau betrachtet, lediglich Futter, Wohnraum und willkommener Arbeitssklave für die Mikroben.

Tatsächlich spricht schon beim ersten Draufsehen ziemlich viel für diese Perspektive. Überall, wo der Mensch in den letzten zehntausend Jahren hingekommen ist, übernahm er schnell – so bildete er sich ein – die unangreifbare Herrschaft über alle übrigen Lebensformen, ob Pflanze oder Tier, Insekt, Vogel oder Säuger, rottete sie aus oder beutete sie aus, hegte sie ein, sperrte sie in Ställe, manipulierte ihre Gene. Aber bei den Mikroben, also bei Bakterien, Viren, anderen Einzellern  gelang ihm das nicht. Im Gegenteil, die Mikroben machten ihrerseits den Menschen zum Operationsfeld ihrer Daseinsstrategien.

Sie überzogen ihn mit todbringenden Seuchen, verheerten seine Aussaaten, indem sie sie gleichzeitig für sich selber nutzbar machten. Und keine dauerhafte Verteidigung gegen sie war möglich. Man konnte sie nicht totschlagen und auffressen, dazu waren sie zu klein. Und man konnte sie auch nicht sonstwie gattungsmäßig ausrotten, dazu waren sie zu wandlungsfähig. Hatte man mit Hilfe von „Antibiotika“ die eine Art außer Gefecht gesetzt, trat sogleich eine andere Art an ihre Stelle, die genau die gleichen Seuchen oder sonstigen Verheerungen bewirkte.


Ferris Jabr hat kürzlich im Magazin der New York Times höchst eindrucksvoll von einer „definitiven Endkrise der antibiotischen Ära“ gesprochen, und seine Kollegin Kendra Rumbaugh stimmte ihm am gleichen Ort hundertprozentig zu: „Eine Suche nach gänzlich neuartigen Naturheilmitteln“, schreibt sie, „wird beginnen müssen, damit wir unseren Frieden mit den Mikroben machen können.“ Den Anfang sollte man mit einer „Ethnobotanik“ versuchen, worunter sie eine Art Ökologie-Allianz zwischen Bäumen, Mikroben und gelernten Ethno-Biologen versteht.

Ein Baum, so wird dem Leser dargelegt, könne nicht einfach die Gegend wechseln, wenn es für ihn – etwa durch Raupenbefall – gefährlich werde. Also reagiere er mit einem ihm seit Jahrtausenden einverwurzelten Einsatz hocheffizienter Drogen, der die Angreifer ablenke und befriedige, ohne ihnen wirklich zu schaden.

Zitat Jabr: „Pflanzen sind so etwas wie die chemischen Magier der Natur (…) Sie verändern je nach Bedarf die Chemie ihrer Umgebung, durchdringen den Boden, die Luft und sich selbst mit molekularen Cocktails und Düften, die ihre Überlebens- und Fortpflanzungschancen steigern.“ Dem sollten die Ethno-Botaniker nacheifern. 

Fragt sich nur, ob die Mikroben so ohne weiteres Geschmack an den ihnen servierten molekularen Cocktails finden und ihretwegen alle Herrschaftsgelüste vergessen würden. Sie sind schließlich keine fetten Schmettetlingsraupen, sondern ein durch und durch kämpferisches, aggressives Geschlecht. Natürlich stimmt es: Für die menschliche Industrie sind sie oft auch sehr nützlich, man braucht sie bei der Herstellung von Parfüms und Treibstoffen oder für die Haltbarmachung von Lebensmitteln. Aber stets geht es dabei um die Frage: Wer führt hier wen und wer wird geführt?

Mindestens die Hälfte aller  menschlichen Zellen sind „mikrobiell“, das heißt, sie werden von Mikroben bewohnt und gesteuert, zumindest tief beeinflußt. Zwar ist auf diesem Gebiet fast noch alles unerforscht, doch man sieht bereits, was schließlich als Generalerkenntnis herauskommen wird: die Mikroben spielen die erste Geige, der Mensch reagiert nur auf sie. Unsere Verdauung beispielsweise kann nur durch die Anwesenheit von Milliarden von Mikroben funktionieren, sie regulieren die Abläufe, sie überwachen und schützen sie.


Mikrobiologie, wußte schon Louis Pasteur (1822–1895), einer der Väter der modernen mikrobiologischen Forschung, ist eine Art Zeitreise durch die Geschichte der Erde. Von Anfang an waren die Mikroben dabei, mischten bereits bei der Entstehung unseres Planeten vor vier Milliarden Jahren eifrig mit und lieferten so gleichsam den Beweis für die originäre Lebendigkeit des Kosmos. Als die Erde für den Menschen noch völlig unbewohnbar war, wuchsen sie in riesigen Kolonien unter Wasser oder in den tieferen Schichten des Erdbodens.

Daß unsere Atmosphäre zu 21 Prozent aus Sauerstoff besteht (Vorbedingung jeglicher menschlicher Existenz), haben wir den Mikroben zu verdanken. Und diese werden die Menschheit mit Sicherheit überleben. Die menschliche Zivilisation wäre dann aus ihrer Sicht nur ein kurzer Moment in der Geschichte „unseres“ Planeten gewesen – aber könnten sie sich dessen je bewußt werden? Nein, nein und noch einmal nein sagen aufatmend manche Forscher, Mikroben können ja nicht denken! Und deshalb seien also nicht sie, sondern die Menschen die „eigentlichen“ Herren der Erde.

Pankraz macht hier jedoch ein Fragezeichen. Mikroben gehören, wie schon ihr Name sagt, zur „Welt des Unsichtbaren“ (Galileo Galilei), deren Gestalten wir nur durch aufwendigste Geräte und Experimente registrieren können. Wir „sehen“ dann irgendwelche bewegten Punkte, die sich irgendwie zueinander in Stellung bringen – und damit die gewaltigsten Vorgänge auslösen.

Ob und wie sie dabei kalkulieren, rechnen oder irgend etwas bewußt „erschaffen“, wissen wir nicht, können es nicht wissen. Vielleicht ist ihre Verbergung, diese Schrumpfung auf bloße Punktualität, das entscheidende Kriterium ihrer schweigsamen Macht.