© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/16 / 14. Oktober 2016

Wahlen statt Barrikaden
Marxismus realpolitisch: Auf ihrem Parteitag 1891 in Erfurt gibt sich die SPD ein neues Programm
Jürgen W. Schmidt

In Thüringen war die deutsche Sozialdemokratie traditionell gut verankert, weshalb man sich entschloß, den nächsten planmäßigen Parteitag vom 14. bis zum 20. Oktober 1891 in der mittelgroßen preußischen Industriestadt Erfurt abzuhalten. In der dortigen Futterstraße Nr.16, in der Tagungsstätte „Kaisersaal“ fand vor 125 Jahren der als „Erfurter Parteitag“ in die Geschichte der Sozialdemokratie eingegangene Akt statt, an welchem etwa 250 Delegierte aus ganz Deutschland teilnahmen. 

Marx’ Revolutionslehre fiel unter den Tisch

Wichtig war dieser Parteitag insofern, als die Sozialdemokratie nach ihrem Sieg im Kampf gegen das Bismarcksche Sozialistengesetz, welches 1890 ausgelaufen war, ihre politische Zielrichtung neu abstecken mußte. Bis dahin waren seit 1878 sozialistische und sozialdemokratische Organisationen und deren Aktivitäten im Deutschen Reich verboten. Sozialdemokraten konnten allerdings als Einzelkandidaten an Wahlen teilnehmen und als gewählte Parlamentarier eine sozialistische Fraktion im Reichstag bilden. Den Sozialdemokraten ging es nun nach dieser schweren Zeit darum, sich zwischen den beiden möglichen Optionen „Radikalopposition“ oder „pragmatisches politisches Handeln“ zu entscheiden und den künftigen politischen Kurs der Partei im Reichstag und in den kommunalen Parlamenten festzuschreiben. 

Die Parteiführung um August Bebel und Wilhelm Liebknecht stand hierbei unter erheblichem Druck von „jungen Wilden“, deren Wortführer der Berliner Literat Bruno Wille war. Im Vorfeld des Parteitags konstituierte sich deshalb eine 21köpfige Programmkommission unter Wilhelm Liebknecht. Es gingen mehrere Programmentwürfe der unterschiedlichsten Richtungen bei dieser Kommission ein. Darunter befanden sich auch die jene Konzepte zweier jüngerer Sozialdemokraten, die hiermit nachdrücklich auf ihre künftige Rolle als Chefideologen der SPD aufmerksam machten. 

Es handelte sich um Karl Kautsky, der den mehr theoretisch gehaltenen ersten Teil des künftigen „Erfurter Programms“ verfaßte und um den Engels-Adlatus Eduard Bernstein, welcher den zweiten Programmteil mit seiner handlungsorientierten, praktischen Ausrichtung formulierte. Im Gegensatz zu heutigen, vielhundertseitigen Parteiprogrammen, die kaum jemand liest und kennt, umfaßte das „Erfurter Programm“ knappe fünf Druckseiten und war zudem in allgemeinverständlicher Sprache gehalten. 

Betrachtet man das Programm etwas genauer, wird deutlich, daß es einen Kompromiß zweier großer Strömungen in der Sozialdemokratie und nur scheinbar den totalen Sieg der marxistischen Lehre in der deutschen Arbeiterbewegung darstellte. Zwar wurde im theoretischen Teil gemäß Karl Marx die unausbleibliche Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft von Kleinbetrieben hin zu Großbetrieben inklusive der Verelendung der Mittelschichten und Zunahme des Proletariats postuliert. 

Weil sich das Eigentum an Produktionsmitteln letztlich in immer weniger Händen befinde, müsse daraus schlußendlich die Vergesellschaftung aller Produktionsmittel und der Anbruch des Sozialismus resultieren. Doch hatte man, was für die deutsche Sozialdemokratie im Gegensatz etwa zu den russischen Sozialdemokraten bezeichnend bleiben sollte, klammheimlich die Marxsche Revolutionslehre unter den Tisch fallen lassen. Der praktische Teil des Parteiprogramms orientierte deswegen nicht auf einen sich immer mehr verschärfenden Klassenkampf, der letztlich im bewaffneten Kampf und dem Ausbruch der sozialistischen Revolution gipfeln würde. 

Vielmehr hatte hier Eduard Bernstein in seinem Teil des Programm-entwurfs auf ganz pragmatische politische Ziele hingearbeitet, welche der Arbeiterklasse den Kampf um die politische Macht im Staat ermöglichen und erleichtern sollten. Dazu gehörte als wichtigste Forderung das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht für alle Reichsangehörigen ab 20 Jahren ohne Rücksicht auf ihr Geschlecht. Bemerkenswert ist im Zeitalter eines sozialdemokratischen Justizministers Heiko Maas sicher der Punkt 4 des „Erfurter Programms“, mit welchem die damaligen Sozialdemokraten auf die „Abschaffung aller Gesetze, welche die freie Meinungsäußerung und das Recht der Vereinigung und Versammlung einschränken oder unterdrücken“ hinarbeiten wollten. Es ist ebenso erstaunlich, daß die deutschen Sozialdemokraten im Jahr 1891 grundsätzlich auf der „Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit“ beharrten, nur daß sie eine „Volkswehr“ anstelle des stehenden Heeres verlangten. 

Der realpolitische Teil ging auf Engels-Schüler zurück

Ebenso irritierend klingen angesichts der Forderung Kerstin Grieses, der derzeitigen religionspolitischen Sprecherin der SPD im Bundestag, nach Islamunterricht an allen deutschen Schulen die seinerzeitigen sozialdemokratischen Forderungen nach „Weltlichkeit der Schule“ und der „Erklärung der Religion zur Privatsache“, für welche man keinesfalls öffentliche Mittel verwenden dürfe. Sollte man sich über den ganz handlungsorientierten, strikt realpolitischen zweiten Teil des Programms wundern, so ist auf die Eigenschaft von Eduard Bernstein als engstem Schüler von Friedrich Engels zu verweisen. Ausgerechnet Engels hielt es nämlich um 1890 für durchaus möglich, daß die deutsche Arbeiterklasse auf friedlichem Wege per Wahlen, nicht mittels Barrikadenkampf, die politische Macht im Staat erringen könne.