© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/16 / 14. Oktober 2016

Das schwäbische Cyber Valley
Wie die Max-Planck-Gesellschaft die Herausforderung von Big Data meistern will / Bald neue Institute?
Sven Mielke

Daß sich ein Präsident der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) emphatisch auf seine nach Wilhelm II. benannte, 1910 gegründete Vorgänger-Institution wie auf den innovativen Geist Preußen-Deutschlands beruft, kommt nicht alle Tage vor. Und doch lobt Martin Stratmann, MPG-Chef seit 2014 und zuvor Direktor am Max-Planck-Institut für Eisenforschung, den Wagemut der Altvorderen.

Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft sei ein „Hort der wissenschaftlichen Leistungselite“ gewesen. Von ihrem Tatendrang profitiere Deutschland noch immer. Eine ganze Generation von Naturwissenschaftlern und Technikern habe damals das Fundament für Deutschlands starke Wirtschaft gelegt, die selbst katastrophale Kriege überstanden habe und die „uns bis heute Wohlstand sichert“ (Max-Planck-Forschung, 2/16).

Nachholbedarf in der Informationstechnologie

Da der Elektrochemiker glaubt, die deutsche Wissenschaftspolitik stünde vor ähnlichen Herausforderungen wie sie Ende des 19. Jahrhunderts Industrialisierung und erste Globalisierung brachten, appelliert er an die Verantwortlichen, endlich die finanziellen Voraussetzungen zu schaffen, um die „ohnehin schon viel zu große Lücke“ in den Mint-Fächern – beim Nachwuchs an Mathematikern, Ingenieuren, Naturwissenschaftlern und Technikern – zu schließen.

Mehr Geld sei auch nötig, um Abwanderungen in die USA zu verhindern oder herausragende Wissenschaftler aus aller Welt ins Land zu locken. Am schmerzlichsten empfindet Stratmann indes den Nachholbedarf in der Informationstechnologie, der „Computer Science“. Sei doch der bisher 64mal verliehene Turing Award, der „Nobelpreis“ für Informatik, 47mal in die USA und sechsmal nach England gegangen, aber nie nach Deutschland. Dabei vollziehe sich auf diesem Sektor eine „digitale Zeitenwende“, deren Macht seit Beginn des Jahrtausends unseren Alltag umwälze.

Seinen revolutionären Schub gewinnt „Big Data“ aus dem Sammeln, Speichern und Auswerten riesiger Datenmengen. Das ermöglicht „datengetriebene Hypothesengenerierung“, wie Stratmann die technische Beschleunigung der Produktion von neuem aus altem Wissen nennt. Physik, Astrophysik, Materialforschung, Bioinformatik, schlechthin alle, die kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen eingeschlossen, würden durch Digitalisierung in die Lage versetzt, „unglaublich vielseitige Informationen“ zu durchdringen und aus ihren jeweiligen Datenknäueln neue, industriell umsetzbare Erkenntnisse, Entdeckungen, Regelmäßigkeiten herauszufischen.

Auf den ersten Blick wirkt das beim Turing Award leer ausgehende Deutschland, das keine der globalen Internetplattformen schuf, in der Big-Data-Konkurrenz zwar wie abgehängt. Aber für Stratmann ist es die MPG, die mit ihrem in Stuttgart und Tübingen residierenden Institut für Intelligente Systeme – und mit den im Umfeld erblühenden Firmen – ein neues „Zuhause für Wissenschaftler und Nerds“ bietet: dieses schwäbische „Cyber Valley“ sei derzeit Motor der Aufholjagd. Bei der Verbindung lernender Computersysteme mit Hardware, die bauartbedingt über physische Intelligenz verfügt, „da haben wir etwas zu bieten“. Auch diskutiert die MPG intensiv über neue Institutsgründungen, etwa für die Mathematik, Quantenphysik oder die Optik und Informatik kombinierende Kryptographie, um die Forschungsführerschaft bei der Kommunikationssicherheit zu behaupten.

Ersetzen künftig Implantate verletzte Nervenfunktionen?

In der Neuroprothetik (elektronische Implantate, die geschädigte Nervenfunktionen ersetzen) sei „ein potentiell extrem ergiebiges Forschungsfeld“ zu besetzen, das dem lukrativen maschinellen Lernen und der intelligenten Robotik benachbart ist. Ließen sich alle Institutsprojekte realisieren, würde sich Stratmanns – mit reichlich naiver, weil von gesellschaftlichen Kontexten abstrahierender Technikbegeisterung – verklärtes Cyber Valley, bald durch viel MPG-Forschung auszeichnen: mit hoher Dichte von Nachwuchsgruppen, einer starken Ausgründerszene und Unternehmenskooperationen – ein Konsortium von „internationaler Sichtbarkeit“. 

Allerdings dürften weder Etaterhöhungen, eine kreativere Forschungspolitik und nicht einmal das von Stratmann beschworene Vorbild der wilhelminischen Nobelpreisträger-Riege im IT-Bereich den Erfolg im Kampf „an der Front des Erkenntnisfortschritts“ garantieren. Ungeachtet ihrer extrem flexiblen Strukturen könne sich die MPG nämlich nicht unbegrenzt zu Lasten ihres eigenen breiten Institutsspektrums in Richtung Big Data umbauen. Deshalb müßten die leistungsstärksten europäischen Staaten hier einspringen. Wie das inzwischen mit US-Einrichtungen wie dem MIT in derselben Liga spielende europäische European Molecular Biology Laboratory (EMBL)  auf dem Gebiet der Biomedizin beweise, seien hier beachtliche Kapazitäten abrufbar, so daß sich Stratmann wünscht: „Ein solches Engagement brauchen wir auch in den Computerwissenschaften!“

Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme: www.is.mpg.de/de