© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Nachhilfe bei der Familienplanung
Marie Stopes International: Eher im verborgenen kämpft die Organisation gegen Unwissenheit und für Verhütung
Verena Inauen

Pünktlich um neun Uhr vormittags stehen Dutzende junge Frauen und Männer vor dem Büro der Organisation „Marie Stopes“ in Kenia. Sie alle wollen sich über Verhütung und Familienplanung informieren oder sichere medizinische Hilfe erhalten. Mit großen Augen verfolgen sie die Videos über weibliche und männliche Geschlechtsteile und deren Funktion. Themen, die zuvor noch niemals laut ausgesprochen wurden und worüber viel Unwissenheit herrscht. Unterbrochen wird das betretene Schweigen immer wieder durch Anrufe von abgelegen wohnenden Jugendlichen, die sich bei der Hotline informieren möchten. Bis zu tausend Telefongespräche dieser Art verzeichnet die Organisation pro Monat.

Zeitgleich lassen sich Schwangere mit Beschwerden in Sambia von einem ausgebildeten Arzt untersuchen, anstatt oftmals tödliche Praktiken aus ihrem Kulturkreis anzuwenden. Staunend blicken die erwachsenen Frauen aus dem Sitzkreis auf den Ovulationskalender an der hölzernen Wand des „Marie Stopes“-Gebäudes. Das erste Mal im Leben erhalten sie einen tieferen Einblick in ihre körperlichen Vorgänge. In einem abgetrennten Bereich nur für Männer steht ein junger Mitarbeiter mit einer umgebundenen Kochschürze. Darauf abgebildet finden sich die männlichen Geschlechtsteile, anhand deren er den ungläubigen Zuhörern erläutert, wie eine Vasektomie, die Sterilisation des Mannes, vor sich geht.

In 37 Ländern rund um den Erdball verbreitet

In Papua-Neuguinea sind um diese Zeit bereits etliche Minivans unterwegs, um mobile Krankenpfleger von „Marie Stopes“ in abgelegene Dörfer zu entsenden. Dort wird deren Hilfe in bezug auf hygienischen Schwangerschaftsabbruch oder Verhütungsmittel gefordert. Diskret, behutsam. „Wir haben zwei große Probleme. Den Transport und die Kommunikation“, gibt James als Versorgungsmanager zu. Das abgelegene Terrain macht es für medizinisches Personal zu einer wahren Herausforderung, die Frauen in ihren Dörfern zu erreichen. Gleich verhält es sich mit den Informationen, welche die in London ansässige Organisation den Einwohnern mitgeben will. 

Die Organisation „Marie Stopes“ hat es sich seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zur Aufgabe gemacht, gegen Windmühlen zu kämpfen. Gemeinsam wollen die überzeugten Mitarbeiter vor allem in afrikanischen und asiatischen Ländern auf die Selbstbestimmung der Frauen und Verantwortung der Männer in der Familienplanung und der Verhütung aufmerksam machen. Heute wirkt die Organisation in 37 Ländern, von Rumänien bis Australien, von Bolivien bis Kambodscha.

Als prominente Namensträgerin hat sich die Vereinigung die schottische Botanikerin und Frauenrechtlerin ausgesucht. Zeitlebens leistete die 1880 in Edinburgh geborene Wissenschaftlerin Marie Stopes Aufklärungsarbeit in Hinblick auf die wenig beachtete weibliche Sexualität, aber auch in Sachen Abtreibung und Verhütung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts warnte sie vor der damals gängigen Methode des Coitus interruptus, weil er zwar „die Frau von der Angst vor unerwünschter Nachkommenschaft“ befreie, sie damit allerdings „erregt und unbefriedigt“ zurückbleibe. Eine Feststellung mit unangenehmen Folgen für ihr persönliches Schicksal: Von Vertretern der Church of England und der römischen Kirche erntete sie herbe Kritik. Ihr Bekanntmachen von Verhütungsmethoden nannte der britische Arzt Halliday Sutherland ein „abartiges Verbrechen“. Sie klagte ihn wegen Verleumdung an, verlor aber den Prozeß.

Kirchen mißfällt Abtreibungspolitik

Die gleichen Institutionen rufen heute zum Boykott von Marie Stopes International auf. Begründung: Die Organisation biete auch in Ländern wie Nigeria, wo eine Abtreibung illegal sei, Schwangerschaftsabbrüche an und rufe zur Verhütung im großen Stil auf. Christliche Vertreter demontrieren darum regelmäßig vor den Geschäftsstellen.

Wesentlich heftiger fällt die Kritik allerdings im europäischen Raum aus. Die Lebensrechtlerin Clara Watson hält der Vereinigung vor, selber keine medizinisch korrekten Abtreibungen durchzuführen: „Es ist absolut skandalös von Marie Stopes International, von unsicheren Abtreibungen zu berichten und ihre Patienten derselben Gefahr auszusetzen.“ Weil die Bedingungen gänzlich andere seien als in der Dritten Welt, schloß Marie Stopes International darum kürzlich eine Abtreibungsklinik in Norwich.

 Während Marie Stopes ab 1900  Aufklärungsarbeit in Europa leistete, ringen ihre Nachfolger im Geiste unter dem Organisationsnamen „Marie Stopes International“ seit der Gründung im Jahr 1976 um dürftige Erfolge auf dem afrikanischen und asiatischen Kontinent.

Rund fünf Millionen Abtreibungen werden jährlich allein in Afrika vorgenommen. Etwa 30.000 Frauen sterben an den Folgen der zumeist unhygienischen Eingriffe. Ein fehlendes Bewußtsein für Möglichkeiten der Verhütung sorgt auch heute noch für gleichbleibend hohe Zahlen bei den Geburten wie auch bei den Neuansteckungen mit HIV. 25 Millionen Infizierte leben südlich der Sahara.

Eine Zahl, die mit der Wanderbewegung Tausender Afrikaner auch in Europa an Aktualität gewinnt. 

Erstmals steigt auch die Gefahr für die so weltoffene und promiskuitive europäische Jugend von heute, an einer Infektion zu erkranken, die im Biologieunterricht teilweise gar nicht mehr thematisiert wird. Ein geringes Risikobewußtsein, eine geringe Testbereitschaft und ein nonchalanter Umgang mit Sexualität könnte demnach auch Mitteleuropa bald vor neue Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung stellen.

Neben Aids listet das deutsche Robert-Koch-Institut (RKI) jedoch auch andere Infektionskrankheiten wie etwa Hepatitis B und C oder Tuberkulose, die vermehrt von Asylsuchenden vor allem in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Berlin ausgehen (monatlicher Bericht des RKI, Stand 21. September). Das RKI sieht derzeit „keine erhöhte Infektionsgefährdung der Allgemeinbevölkerung durch Asylsuchende“, gibt allerdings gleichzeitig zu verstehen, daß es große Mängel in der Erhebung und Registrierung von Ankommenden gibt. Gesundheitsdaten von Zuwanderern, die in eine Massen- oder Privatunterkunft verlegt werden, „lassen sich derzeit nicht mehr der Zielgruppe zuordnen“ (Deutsches Ärzteblatt, 29. Januar 2016).

Mittels Aufklärung im südlich der Sahara gelegenen Teil Afrikas sollten mehr Familien ihren Nachwuchs gezielt planen und so sowohl die Abtreibungsrate, Müttersterblichkeit wie auch sexuell übertragbare Krankheiten gesenkt werden. Die unermüdliche Arbeit von „Marie Stopes“ setzt darum auf die Vernunft der Frauen. In den asiatischen und nahöstlichen Entwicklungsländern passiert zur Zeit eine kleine Revolution im Fortpflanzungsverhalten der Bevölkerung. Der ehemalige Durchschnitt von sechs Kindern pro Familie senkte sich seit den sechziger Jahren auf vier – im Vergleich dazu bekommt eine deutsche Familie etwa 1,47 Kinder.

Eine Entwicklung, die nur versetzt in afrikanischen Ländern ankommt. Aufklärungsarbeit wie die von „Marie Stopes International“ dringt dabei nur langsam ins Bewußtsein der Bevölkerung vor.

Während zwar ein immer größerer Teil der Bevölkerung auf die Möglichkeit der gezielten Schwangerschaftsverhütung aufmerksam gemacht werden kann, stagniert gleichzeitig die Zahl der Neuerkrankungen durch Infektionen mit Aids, Chlamydien oder Syphilis. Ein Teufelskreis, angefeuert durch Halbwissen: Die Verhütungsmethoden sind bei dem männlichen Teil der Bevölkerung nur teilweise bekannt, Material spärlich vorhanden. 

Wie die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung aufzeigte, weiß beispielsweise nur ein Drittel der männlichen und ein Viertel der weiblichen Schüler in Kenia darüber Bescheid, daß die Anti-Baby-Pille von der Frau und nicht vom Mann einzunehmen ist. Ähnlich verhält es sich mit dem Wissen darüber, wo die diversen Verhütungsmittel zu beschaffen sind. An der Umsetzung der Verhütung in Ländern der Dritten Welt mangelt es allerdings noch gravierender.

Vorhandene Präservative werden von der männlichen Bevölkerung teilweise als Teufelswerk verbannt oder aber gleich mehrfach gebraucht. In vielen Gegenden glauben Männer beispielsweise, daß der Beischlaf mit einer Jungfrau von Infektionskrankheiten aller Art heilen würde. Was dazu führt, daß allein in Südafrika ein Drittel aller Schulmädchen bis zum Alter von zwölf Jahren HIV-positiv getestet wurden und dort jährlich 70.000 schon infizierte Babys auf die Welt kommen.

Vertrauensbildung durch einheimische Mitarbeiter

Große Brocken, welche die Organisation „Marie Stopes“ aus dem Weg räumen muß, um ihre Botschaft „an den Mann“ zu bringen. Die Klinikmanagerin Marian in Kenia etwa weiß, daß in ihrem Kulturkreis Entscheidungen meist von Männern getroffen werden. Sie beginnt ihre Überzeugungsarbeit darum bei diesem Teil der Bevölkerung: „Die Mehrheit unserer Kultur erwartet von Frauen, ständig schwanger zu sein und weitere Babys zu liefern“, erklärt sie vor laufender Kamera. Weil die Worte einer Frau dort oftmals auf taube Ohren stoßen, möchte „Marie Stopes“ auch durch männliche Mitarbeiter ein neues Bewußtsein schaffen.

Durch Angestellte und Helfer aus dem eigenen Kulturkreis schafft die Organisation nicht nur Arbeitsplätze vor Ort, sondern auch Vertrauen in ihrer Zielgruppe. Indem das medizinische Personal die gleiche Sprache wie die einheimische Bevölkerung spricht, sollten weitere Dämme gebrochen werden. Immer mehr informierte Frauen können ihre Partner davon überzeugen, einen Aufklärungskurs zu besuchen. Als Resultat lassen sich einige davon zeugungsunfähig machen. Ähnlich verhält es sich mit dem weiblichen Teil der Bevölkerung: „Wenn eine Frau mit dem implantierten Verhütungsstäbchen nach Hause geht und es ihren Freundinnen zeigt, kommen weitere“, ist Marian überzeugt.