© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Pankraz,
Conan Doyle und der sterbende Detektiv

Den offiziellen Verlautbarungen zufolge steht die derzeit laufende Frankfurter Buchmesse im Zeichen der abbildenden Künste, Malerei, Fotografie, Performance. Viele neue Bücher mit einschlägiger Thematik werden gezeigt, viele wichtige Spezialperspektiven höchst eingängig zwischen zwei Buchdeckeln erörtert. Auch Pankraz ist, wie seine Leser wissen, mit von der Partie, nämlich mit dem Buch „Abbild und Ereignis“ (gebunden, 324 S., 19,90 Euro), ausgestellt am Stand des JF-Verlages in Halle 4.1.

In Wahrheit dominieren natürlich, für jeden Besucher sofort auffällig, nicht die Künste, sondern das Krimi- und Thriller-Gewerbe das belletristische Angebot. Nicht Künstler, sondern Tatort-Kommissare und andere Detektive sind die aktuellen Helden der Messe. Es wimmelt von Erzählungen, wo schreckliche Mordfälle oder vergleichbare tödliche Katastrophen aufgeklärt werden, es wird gestorben am laufenden Band in den Neuerscheinungen. Aber über das Sterben erfährt man dabei so gut wie nichts, nur etwas über das Töten. 

Martin Walsers bei Rowohlt erschienener Roman „Der sterbende Mann“ ist die große Ausnahme, einzig er stellt sich in die Tradition früherer Sterbe-Erzählungen, wobei man gleich hinzufügen muß, daß diese Tradition sehr schmal ist und nur wenige Titel von Bedeutung umfaßt, etwa Tolstois „Der Tod des Iwan Iljitsch“ oder Thomas Manns „Tod in Venedig“. Das Sterben selbst war nie ein privilegiertes Thema in der Literatur, obwohl es in ihr ja sehr oft um Tod oder Leben geht. Faktisch steht die Literatur immer auf der Seite des Lebens, auch die Kriminalliteratur.


Allerdings gibt es dort, gerade bei den größten Meistern des Genres, ein Phänomen, das eigentümlich quer zu dem eben Gesagten steht und das Pankraz „das Problem der Grabbeigaben“ nennen würde. So wie in früheren Zeiten mächtige Fürsten, wenn der Tod an sie herantrat, ihr Liebstes mit ins Grab zu nehmen pflegten, einerlei ob Schwert, Pferd, Sklave oder Lieblingsfrau, so nahmen Krimiautoren und andere Thrillerproduzenten etwa seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gern ihre von ihnen geschaffenen Lieblingsfiguren mit ins Grab.

Als 1966 der allerseits beliebte britische Erzähler Cecil Scott Forester starb, bekannt geworden vor allem wegen seiner Erfindung des äußerst farbenreichen Kaperkapitäns Hornblower aus der Napoleonzeit, kam ein Manuskript zutage, in dem er seinen populären Helden sterben läßt – Forester hatte das Buch absichtlich bis zu seinem eigenen Sterben zurückgehalten,  er war so eins geworden mit dem Kapitän, daß er noch im Tod für immer mit ihm zusammenbleiben wollte. Die öffentliche Rührung war groß, doch es regte sich in der Leserschaft interessanterweise auch wohlbedachter Widerspruch.

Beinahe einhellig war die Ablehnung dann im Fall der Agatha Christie. Eines Tages  – niemand weiß, wer es wirklich veranlaßt hatte – erschienen in der Londoner Times plötzlich einige Manuskriptblätter aus dem Safe einer Bank, auf denen die weltberühmte Autorin dem von ihr erfundenen, inzwischen ebenfalls weltberühmten Meisterdetektiv Hercule Poirot die letzte Ölung verabreichte. Auch diese Blätter, so wurde mitgeteilt, sollten „eigentlich“ erst nach Agathas Tod veröffentlicht werden. Doch die Leserschaft war trotzdem ziemlich aufgebracht.

„Wir wollen Hercule Poirot nicht sterben sehen“, war der allgemeine Tenor. Was im Falle Hornblowers noch als ein Zugeständnis an den natürlichen Lauf der Dinge und seine innere Tragik interpretiert wurde, erschien nun hier bei Agatha Christie als reine Blasphemie. Foresters Romane drehten sich ja vor allem um das Privatleben Hornblowers; der Seebär machte eine Entwicklung durch, Leichtmatrose, Fähnrich, Kapitän; das kannte man ja auch von der Figur des Trotzköpfchens her, welches allmählich von Buch zu Buch zur Oma reift. Sie müssen halt sterben, diese Sterblichen! Aber Poirot?


Poirot und seinesgleichen hatten in den Augen des damaligen Publikums nichts mit solchen Normalsterblichen zu tun, sie betraten die Bühne der Literatur als fertige Figuren, sie sollten sich nicht „entwickeln“, sie sollten einen Fall aufklären, es waren gleichsam mythische Gestalten, Nemesis, aus göttlichem, zumindest seraphischem Fleisch gebildet. Ihre Erfinder, die Autoren, hatten nur noch teilweise Verfügungsgewalt über sie. Ihren Tod zu thematisieren, ihn auch nur in Erwägung zu ziehen, war pures Sakrileg.

Wohl als erster hat das bekanntlich Conan Doyle, der Erfinder des unsterblichen Sherlock Holmes, zu spüren bekommen. Nachdem er diesen hatte sterben lassen (skandalöserweise sogar ohne mit ihm zusammen oder wenigstens direkt nach Erscheinen des Sterbebuches selber zu sterben), erhob sich ein derartiger Protest nicht nur bei den Lesern, sondern in der Öffentlichkeit überhaupt, daß so oder so gehandelt werden mußte. Entweder starb der Autor, oder Sherlock wurde wieder zum Leben erweckt. Wie wir wissen, passierte das letztere, ohne daß darüber irgend jemand wundergläubig geworden wäre. Man fand das völlig in Ordnung.

In der heutigen Literatur wäre solch ein Vorgang völlig unmöglich. Die derzeitigen Kommissare im Fernsehen und ihre literarischen Doubletten auf der Buchmesse sind alles andere als mythische Figuren, geschweige denn gottähnlich. Es sind durch die Bank „Menschen wie du und ich“, behaftet mit höchst alltäglichen Macken und Schwächen, die sie üppig vorzeigen, um „Indivualität“ zu gewinnen und das Publikum zu überzeugen und für sich einzunehmen.

Dem heutigen Publikum seinerseits ist die Sache gleichgültig. Es diskutiert kaum noch über den jeweiligen Kriminalfall, dafür um so mehr über die Macken und Schwächen seines jeweiligen Lieblingskommissars beziehungsweise seiner Lieblingskommissarin. Niemand, weder Autor noch Publikum, käme je auf den Gedanken, einen Detektiv mit ins Grab zu nehmen, höchstens mit ins Bett. Fürs tagtägliche Überleben ist das vielleicht gut, für Literatur und Kunst weniger.