© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Völlig offener Zugriff
Tschüß Gutenberg-Zeitalter: Nach Brüsseler Logik verheißt „Open Access“ Wohlstand durch Offenheit
Wolfgang Müller

Auch wenn es nicht um „Flüchtlinge“ und Grenzen geht, sollte der Bürger immer hellhörig werden, wenn Politiker das Wörtchen „offen“ verwenden. Aber geradezu alarmiert muß er sein, wenn Litaneien der Weltoffenheit mit Heilsbotschaften einhergehen, die jede beliebige Entgrenzung als letzte Etappe auf dem Weg ins Paradies der Menschheit bewerben.

Auch das jüngste Weltbeglückungsprogramm des Großen Brüsseler Bruders, „Open Access“ (OA), offener Zugang oder Zugriff, tischt wieder diese messianische Melange auf. Denn wie gewohnt übertrumpfen sich die Superlative in einer nordkoreanisch anmutenden Jubelpropaganda für die im Frühjahr 2016 von der EU-Kommission eingerichteten European Open Science Cloud und die Einführung des „Open Access“- Standards für alle Forschungsprojekte des EU-Förderprogramms Horizont 2020. „Exzellente Wissenschaft“ sei die Basis für Wohlstand und Offenheit die Voraussetzung für Exzellenz. Nach der simplen Brüsseler Dreisatzlogik heißt das: Wohlstand durch Offenheit.

Der für Forschung in der Kommission zuständige Portugiese Carlos Moedas führt mit diesen Initiativen zwei Entwicklungen zusammen, von denen ihre Apostel wie Viktor Mayer-Schönberger (Oxford Internet Institute) nicht weniger erwarten als ein goldenes Zeitalter der Wissenschaft, das im 21. Jahrhundert jene „Infrastruktur der Aufklärung“ aufbauen werde (Die Zeit vom 6. Oktober 2016), die letztlich die Massen beglücken soll. 

Zum einen „Big Data“, die Großdatenanalyse, die Quantität in Qualität verwandeln will, indem sie dank technischer Perfektionierung der uralten Methode des Vergleichens aus einem Datenozean alten Wissens neues Wissen kreiert, um damit wahlweise die Armut abzuschaffen, Alzheimer zu besiegen oder so bahnbrechend innovative Einsichten zu vermitteln, wonach die Bezugnahme auf den jüdischen Maler Marc Chagall in Deutschland seit 1933 abnahm, während er in den USA weiterhin oft erwähnt worden sei. 

Zum anderen eben „Open Access“, das Forscher verpflichtet, ihr „frisch generiertes Wissen“ umgehend in einen Datenozean fließen zu lassen, etwa in Moedas Open Science Cloud, die bereits 1,7 Millionen Wissenschaftler des EU-Raums aufpumpen.

Es bedeutet die Beerdigung wissenschaftlicher Bücher

In Deutschland ist vor allem „Open Access“ heftig umstritten. Dabei stehen sich ungleiche Gegner gegenüber. Hier Wissenschaftspolitiker, Großverlage, Hochschulverband, Agenturen der Forschungsförderung wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Dort bisher nur einige OA-Kritiker aus den Reihen des schwankenden verlegerischen Mittelstands, Juristen, die das Patent- und Urheberrecht bedroht sehen sowie „freischwebende“ Geister wie der Literaturwissenschaftler Roland Reuß, der durch polemische Schärfe wettmacht, was ihm an Einfluß fehlt. Tatsächlich scheint Widerstand zwecklos, wie die selbstbewußt-fatalistische „Alternativlos“-Rhetorik aus Johanna Wankas (CDU) Forschungsministerium bekundet, die Reuß ans „ZK der SED“ erinnert (FAZ vom 28. September 2016).   

Auch die Deutsche Universitäts-Zeitung titelt zum Thema „Unaufhaltsam“ und belustigt den Leser mit der Karikatur einer Trauergemeinde, die gerade „Das wissenschaftliche Buch“ beerdigt (Heft 9/2016). Ein Galgenhumor, dessen Berechtigung die Wissenschaftsjournalistin Kristina Moorehead in ihrer Übersicht zum Stand der Debatte weitgehend bestätigt. Zu tief haben wichtige Institutionen wie die Liga Europäischer Forschungsuniversitäten die OA-Ideologie inzwischen verinnerlicht. Zu stark ist der Glaube, die Möglichkeit, kostenfrei zugängliche Fachliteratur, „ohne finanzielle, gesetzliche oder technische Barrieren“, werde Europa nicht nur eine kosmopolitische „Kultur des Teilens und gemeinsamen Arbeitens“, sondern mit dieser erwarteten Wissensexplosion auch den Sprung in ein zukünftiges Wirtschaftswunderland bescheren.

Allenfalls in einigen logistischen Randbereichen kritisiert Moorehead die OA-Strategie als „schwammig“. So sind Wettbewerbsfragen ungeklärt, die aus der uneinheitlichen Umsetzungspraxis der EU-Leitlinie resultieren. Verwirrung stiften die Wege ins Netz, für die es keine Vorgaben gibt: Soll ein Aufsatz primär digital zugänglich gemacht werden oder erst nach Ablauf einer Sperrfrist, als digitale Zweitverwertung? Wer leistet die bisher von den Verlagen verbürgte Qualitätskontrolle?

Damit deutet Moorehead zentrale Einwände von OA-Opponenten nicht einmal an, wie sie der Kafka- und Kleist-Editor Reuß ausgerechnet im Interview mit dem Börsenblatt des deutschen Buchhandels (Netzausgabe vom 9. Juni 2016) bündelt, dem Sprachrohr jener Branche, der OA letztlich das Totenglöcklein läutet. Der Heidelberger Germanist, den seine Gegner gern in die Ecke „konservativer Technikfeinde“ rücken, den Sympathisanten hingegen als Medienkritiker von Adornos Zuschnitt preisen, der die nicht einmal von Orwell geahnten Verblendungszusammenhänge von Google & Co. aufdecke, greift in „Open Access“ eine unheilige neoliberale Allianz zwischen Staat und Wirtschaft an, die, beachtete man nur den Kontext mit der Bologna-Hochschulreform, auf das Gegenteil von Aufklärung, das Gegenteil europäischer Gesellschaften „mündiger Bürger“ hinauslaufe. 

„Torhüter“ kontrollieren 

künftig Veröffentlichungen

OA werde den Konzentrationsprozeß im wissenschaftlichen Verlagswesen beschleunigen. Eines nicht so fernen Tages stünde dem Forscher als Autor allein der Zugang zu Plattformen der wenigen übriggebliebenen Branchenriesen „offen“, weil es die meisten Verlage, die heute noch als „Orte der Dissidenz“ Stützen der Wissenschaftsfreiheit seien, dann nicht mehr gebe. Oder andere Torhüter des Netzzugangs, Hochschulgremien, DFG, wissenschaftliche Gesellschaften, befinden „konsensuell“, nach dem politisch korrekten „System der Rücksichtnahme“, was überhaupt veröffentlicht wird. OA bedrohe somit die geistige Produktion, weise voraus auf „strukturelle Zensur“, vernebele mit neoliberalem „Offenheit“-Neusprech nur dürftig seine Lenkungs- und Kontrollvorhaben, die totalitären Mustern folgen.

Die OA-Apologeten sind Reuß’ Vorwürfen bislang ausgewichen und intonieren stattdessen „Schöne neue Welt“. Unwillkürlich gleitet bei der Lektüre solcher Hochglanz-Phrasen die Hand ins Regal, zur Broschüre „Der Euro stark wie die Mark“. Verfaßt 1997, im von Theo Waigel (CSU) geleiteten Bundesministerium für Finanzen. Diese gilt heute nicht wenigen als eines der unterhaltsamsten satirischen Werke der deutschen Literatur.