© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Der Flaneur
Gleich ist Wochenende
Bernd Rademacher

Mensch, fahr schneller da vorne – es ist zehn vor acht! Um acht Uhr macht die Stadtverwaltung auf. Wer um Viertel nach acht kommt, hat mindestens dreißig Wartende vor sich, das kann ewig dauern. Ich will unbedingt unter den ersten sein.

Geschafft, ich bekomme Wartemarke Nummer fünf. Mein alter Personalausweis war schon lange abgelaufen. Jetzt muß ich dieses neue Ding beantragen, mit dem biometrischen Foto, oder wie das heißt. Hoffentlich erfüllt mein Paßbild die Anforderungen, ich habe dem Fotografen extra gesagt, daß es für den neuen Ausweis ist.

Das Neonlicht über den Tischen der Sachbearbeiter geht an. Nummer eins kann vortreten. Eine junge Frau. Sie verschwindet hinter der diskreten Sichtblende. Ich kann nur irgendwas mit „Grundbuch“ verstehen. Es geht mich ja auch nichts an. Aus dem Fenster sehe ich dem Trupp der Stadtreinigung unten auf der Straße zu. Das Fenstersims draußen ist mit Metallstiften gegen Tauben bewehrt.

Da geht die Tür hinter ihr auf. Eine Kollegin erscheint zum Dienst – strahlender Laune.

Der große Raum mit dem beigen Marmorboden ist typisch Verwaltungsbüro. Gummibäume in den Ecken, gelbe „Post-it“-Aufkleber an den Monitoren, Kinderfotos auf den Schränken, kitschige Glücksbringer und Butterbrotdosen auf den Arbeitsplätzen.

Endlich: meine Nummer! Die Sachbearbeiterin ist korpulent und gemütlich. Vor ihrem Stiftekästchen stehen kitschige Miniaturfiguren aus dem „Herrn der Ringe“. Sie akzeptiert mein Paßbild. Auf der Fensterbank röchelt eine Kaffeemaschine.

Da geht die Tür hinter ihr auf. Eine Kollegin erscheint zum Dienst – strahlender Laune. Sie stellt ihre Ledertasche neben ihren Bürostuhl und jubelt: „Gleich ist Wochenende!“ Sie hat den Mantel noch an. Es ist Donnerstag, 8.30 Uhr. Für mich ist noch lange nicht Wochenende! Meins beginnt erst in 33 Stunden. Bei der kommunalen Verwaltung müßte man arbeiten!