© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Munition für Mutti
Von der Wissenschaft in die Politikerklärung: Der Berliner Politologe Herfried Münkler und seine Frau Marina verteidigen die Flüchtlingspolitik Angela Merkels und entwerfen mit einer ganz eigenen „Wir schaffen das“-Rhetorik die realitätsfremde Vision einer neuen Gesellschaft in Deutschland
Thorsten Hinz

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler gilt als der klügste seines Fachs. Mit der sogenannten Flüchtlingskrise aber ist er von der Wissenschaft in die Politikerklärung gewechselt und hat viel Scharfsinn investiert, um die Politik Angela Merkels mit einem Unterbau strategischer Plausibilität zu versehen, zu dem die Amtsinhaberin außerstande ist. Im aktuellen Buch, das er gemeinsam mit seiner Ehefrau Marina Münkler, Literaturprofessorin an der TU Dresden, verfaßt hat, geht er einen Schritt weiter. Neben der Rechtfertigung der Grenzöffnung im September 2015 gibt er Empfehlungen, wie man mit ihren Folgen fertig wird.

Der Titel signalisiert bereits, daß sie radikal sein werden. Mit den „neuen Deutschen“ sind nicht nur jene gemeint, die seit 2015 über die Grenze strömen, sondern auch die Autochthonen, die, indem sie den Umbruch akzeptieren und mitgestalten, sich verändern sollen. Die Münklers setzen voraus, daß die Zuwanderer eine normative Kraft des Faktischen darstellen, an der zu rütteln und zu deuteln sinnlos ist. Wortreich beschwören sie die Migration als „einen Gewinn“ und schreiben ihr die „Wirkung eines Jungbrunnens“ zu. Weil sie um die Fragilität ihrer Kalkulation wissen, halten sie desto trotziger an ihr fest, denn „nur wer auf den Erfolg setzt, hat eine Gewinnchance“. 

Indirekt räumen sie ein, daß die Kanzlerin das Land in ein Vabanquespiel getrieben hat. Weil ein riskanter, womöglich staatszerstörerischer Dezisionismus keine Grundlage für den Neubau eines Landes abgibt, muß er mit politischem und moralischem Weihrauch vernebelt werden. Münkler & Münkler benötigen dafür fünf redundante Kapitel, in denen sie die Lage aus geschichtlicher, staatspolitischer, moralischer, tagespolitischer und normativer Perspektive betrachten. 

Sie unterstellen der Grenzöffnung eine strategische Überlegung: Es sei darum gegangen, eine  humanitäre Katastrophe zu verhindern, die Europäische Union und den Schengenraum zusammenzuhalten und die brüchigen Balkanstaaten zu entlasten. Doch das strategische Argument sticht entweder nicht oder es wendet sich gegen die Kanzlerin. Der Ansturm hatte sich über lange Zeit angekündigt. Eine strategisch angelegte Politik hätte ihn präventiv, das heißt außerhalb Europas abgewehrt. Der Aktionismus vom September 2015 war höchstens eine taktische Improvisation. Falls allerdings die langwierige Passivität zu einem strategischen Kalkül gehörte, das darauf abzielte, im Windschatten eines großen Chaos neue politische Fakten zu schaffen, dann wäre diese Politik als Putsch gegen die Verfassung und das Staatsvolk zu bewerten und ein Fall für das Verfassungsgericht.

Die Münklers interpretieren die demonstrative „Willkommenskultur“ als den bewußten Versuch der Bevölkerungsmehrheit, der Weltöffentlichkeit die Szenen eines freundlichen Deutschland zu präsentieren und die Bilder von brennenden Asylbewerberheimen zu kompensieren. Zutreffender wäre es gewesen, die Praxis deutscher Medien zu analysieren, sich in verzerrender Negativberichterstattung zu üben und anschließend die Autorität des „kritischen Auslands“ als Argument gegen interne Kritiker in Stellung zu bringen. In dem Fall waren es aber gerade die Jubelszenen auf den deutschen Bahnhöfen, die in europäischen Nachbarländern Befremden und den Eindruck eines „Hippie-Staates“ (Anthony Glees) auslösten.

Ein moralisierendes Tremolo durchzieht das Buch. Die Migranten werden ausschließlich als schwache und hilflose Objekte, als Schutzsuchende vor dem Bürgerkrieg geschildert, die teilweise auch in Deutschland Gefahr laufen, Opfer des Mobs und eines „vigilantistischen Terrors“ (lat. vigiles für Nachtwachen) à la Ku-Klux-Klan zu werden. Die Münklers ignorieren Bücher wie Gunnar Heinsohns „Söhne und Weltmacht“, das die Bevölkerungsexplosion, den „Youth bulge“ in den afrikanischen und arabischen Staaten thematisiert und prognostiziert, daß Hunderte Millionen junger Männer aus gewaltaffinen Gesellschaften in die alternden Länder des Nordens strömen werden, wo sie auf postheroische Einzelkinder treffen.

Wenn die Autoren die „systemische Benachteiligung von Zuwandererkindern“ beklagen und mit Blick auf die Segregation der Wohngebiete gar von einem „Apartheidsregime“ (wenn auch in Anführungszeichen) sprechen, dann ist das – mit Verlaub – sentimentaler Schmonzes. Die Integration und Formung der „neuen Deutschen“ soll vor allem durch Bildung erfolgen. Dazu sollen die Schulklassen durchmischt und die Schüler mit Bussen in jeweils andere Stadtteile transportiert werden. Wobei die Münklers einräumen, daß die deutschen Eltern „für dieses Projekt“ nicht leicht zu gewinnen sein werden. Gewiß nicht! Denn wieder einmal sollen sie neben ihrem Geld auch ihre Kinder opfern, um ein ideologisch fundiertes Politikprojekt zu verwirklichen.

Aus den Vorschlägen spricht ein eklatanter Mangel an sozialer und lebensweltlicher Erfahrung. Die Autoren hätten zur Anschuung Schulen, Krankenhäuser, Sozialämter, Polizeistationen besuchen sollen. Sogar die Beschäftigung mit der Rocker-Szene, die normalerweise über die nötige Härte verfügt, um Neumitglieder auf den Gruppenkodex zu verpflichten, hätte überraschende Ergebnisse offenbaren können. Denn selbst dort endeten Versuche der Blutsauffrischung durch Araber und Türken mit einer feindlichen Übernahme. Die Clanstrukturen der Neuen erwiesen sich als stärker und beständiger als der Wertekodex der Altrocker. Mit der bedingungslosen Grenzöffnung für alle hat die Bundesrepublik ihre Autorität und ihre Sanktionsmöglichkeiten verspielt.

Doch die Münklers halten Merkels Politik für alternativlos und buchstabieren aus affirmativer Perspektive durch, was aus ihr für die Deutschen folgt – im günstigsten Fall! Das ist schlimm genug und erscheint trotzdem wie Schönfärberei, denn die Grundtatsache des afrikanisch-arabischen Geburtenüberschusses sowie zahlreiche Risiken, Unwägbarkeiten und noch vieles mehr werden ausgeblendet. Das ist der Preis, den sie zahlen, um im Geschäft zu bleiben. Man kann Münkler & Münkler nach diesem fast in jeder Hinsicht unterwürfigen Buch nur wünschen, daß sie sich bald aus dem Dunstkreis der Kanzlerin befreien und zur Freiheit der Wissenschaft zurückfinden.

Herfried Münkler, Marina Münkler: : Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft. Rowohlt Verlag, Berlin 2016, gebunden, 290 Seiten, 19,95 Euro