© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Der lange Weg nach Osten
Der Oxforder Historiker Peter Frankopan wählt in seiner „Geschichte der Welt“ den Orient statt dem Abendland als Bezugs- und Ausgangspunkt
Konrad Adam

Die Wissenschaft lebt vom Neuen, vom Ungewöhnlichen, am liebsten von der Sensation. Ohne die Hoffnung, daß andere weiter kommen werden als wir, können wir nicht arbeiten, hieß es schon bei Max Weber. Nachdem Hegel der Weltgeschichte den Weg von Ost nach West gewiesen und Asien den Anfang, Europa aber das Ende der Weltgeschichte genannt hatte; nachdem Heinrich August Winkler diese Vision mit seiner Darstellung von Deutschlands langem Weg nach Westen noch einmal nachgezeichnet, ja überboten hatte; nachdem sich der Sinn der Geschichte dem deutschen Auge ein für allemal enthüllt hatte – war etwas Neues fällig. 

Das zu liefern hat der junge Oxforder Historiker Peter Frankopan unternommen. Der englische Titel seiner neuen Universalgeschichte, „The Silk Roads“, läßt seine Absicht freilich klarer erkennen als der deutsche, der „Licht aus dem Osten“ heißt und damit in die Irre führt. Denn das Licht, von dem da die Rede ist, wird in dem Buch fast ebenso oft in den Osten hineingetragen wie es von dorther kommt. Als guter Engländer richtet Frankopan seinen nicht ganz unbefangenen Blick auf eine Region, die jahrhundertelang im Mittelpunkt der handelspolitischen Interessen Englands gestanden hatte. Und die, da ist sich der Autor sicher, unmittelbar vor ihrem Wiederaufstieg zu welthistorischer Bedeutung steht.

Das Buch gewinnt an Fahrt, je näher es dem Zielpunkt kommt. Wenn sich der Leser durch den ersten Teil des Buchs hindurchgekämpft hat, wird er im zweiten mit einer Schilderung der Epoche belohnt, die vom Aufstieg Englands zur führenden Seemacht bis zum Zerfall des Empire reicht. Der An- und Ausgriff des Landes in Richtung Osten, die Eroberung Indiens, die Errichtung von Stützpunkten und Vasallenstaaten, der Kampf um die Versorgung mit lebenswichtigen Rohstoffen, vor allem mit persischem Öl, wird in einem Stil behandelt, der gelegentlich an die heroischen Erzählungen vom Segen der Kolonisation und der Bürde des weißen Mannes erinnert.

Der Ton ändert sich mit dem Auftauchen der USA, die immer mehr dem Satan gleichen, als den sie der Ayatollah Khomeini seinerzeit beschrieben hatte.  Mochten Engländer und Franzosen mit ihren willkürlich gezogenen Grenzen die Grundlagen für das Abgleiten der Region in Chaos und Bürgerkrieg gelegt haben, so wurde die Lage doch erst mit dem rücksichtslosen Eingreifen Amerikas nahezu aussichtslos. Ausführlich zitiert der Autor aus dem Gespräch, das die damalige Botschafterin der USA in Bagdad kurz vor Beginn des ersten Irak-Krieges mit Saddam Hussein führte. Dabei versicherte sie ihm, ausdrücklich im Auftrag von Außenminister Baker, „daß die Kuwait-Frage nichts mit Amerika zu tun hat“.

Kurz darauf führte Amerika Krieg gegen den Irak: wegen Kuwait. Saddam hatte sich auf das Wort des Außenministers verlassen, und das war ein Fehler. Der Feldzug, den die USA mit überlegenen Kräften geführt und schnell gewonnen hatten, brachte ihm eine Niederlage bei, von der er sich nie wieder erholt hat: Laut Frankopan ein Beispiel für die Art, in der Amerika seine Verbündeten verrät und so aus Freunden Feinde macht. Er läßt an der Politik dieser Großmacht kaum ein gutes Haar. In ihrer Gier nach Öl und ihrem Großmachtgehabe hätten sich die US-Amerikaner über den Grundsatz der Verläßlichkeit hinweggesetzt und damit jenen Haß großgezogen, über den sie sich heute beklagen.

Mit diesem harten, aber wohlbegründeten Urteil stellt Frankopan den Leser vor die Frage, warum von einer so fragwürdigen, ja minderwertigen Kultur wie der des Westens so viel, von der vielfach überlegenen Kultur des Ostens so wenig übriggeblieben ist – das Licht also, bildlich gesprochen, eben nicht aus dem Osten, sondern aus dem Westen kam. Die Antwort darauf macht er sich wohl doch etwas zu leicht, wenn er immer wieder auf die militärische Stärke, das taktische Geschick und den strategischen Weitblick des Westens anspielt und die Geschichte Europas kurzerhand „eine lange Geschichte der Grausamkeit und der Gewalt“ nennt.

Denn das, die Grausamkeit und die Gewalt, war schließlich nicht alles. Noch seine Waffen, seine Gewehre und Geschütze, waren ein Ergebnis der Eigenschaften, die Europa groß gemacht haben: seiner Neugier, seiner Entdeckerfreude, seiner Risikobereitschaft, seiner Neigung zu Kritik und Selbstkritik. Dem hatte der Osten wenig oder nichts entgegenzusetzen – außer Rohstoffen und Bodenschätzen, Getreide, Gewürzen, seltenen Erden und Öl, Massen an Rohöl. Und was die Grausamkeit und die Gewalt betrifft, dürfte der mittelalterliche islamische Eroberer Timur Lenk hinter den Europäern nicht zurückgestanden haben.

Frankopans Vorliebe für den Osten und seine spürbare Distanz, ja Abneigung gegen den Westen berühren in Zeiten des Umbruchs, wie wir sie gegenwärtig erleben, nicht unsympathisch, verzerren aber die Bilanz. Denn sie erklären nicht, was sie erklären sollen: den Wiederaufstieg einer Weltregion aus rein materiellen Gründen. Fruchtbare Böden und riesige Bodenschätze gab es dort schon immer, sie sind dann aber von den anderen, den Männern aus dem Westen gekauft, benutzt und ausgebeutet worden. Warum?

Man kommt der Antwort näher, wenn man den Blick umdreht und weniger auf die Stärken des Ostens als auf die Schwäche des Westens achtet. Frankopan gibt einen Hinweis, wenn er sich darüber amüsiert, daß ein Kontinent, der fast ständig mit aller Welt im Krieg gelegen hat, in Gestalt der Europäischen Union den Friedensnobelpreis erhielt. Statt auf das Wirken pazifistischer Gefühle führt er das Schweigen der Waffen einfach darauf zurück, daß es aus Sicht der Europäer nichts mehr gab, wofür zu kämpfen sich lohnte. Wenn das stimmt, hätte Europa seine Seele verloren.

Peter Frankopan: Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt. Rowohlt Verlag, Berlin 2016, gebunden, 848 Seiten, Abbildungen, 39,95 Euro