© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Ordnungspolitiker mit Langmut
Der große Historiker Lothar Gall widmet sein prägnantes Spätwerk dem preußischen Staatskanzler und bedeutenden Reformer Karl August von Hardenberg
Eberhard Straub

Die allgemeine Bewegung ist das eigentlich Lebendige in der Geschichte; wahre Bedeutung hat der Staatsmann nur insofern, als er sie an seiner Stelle fördert und vielleicht leitet“. Leopold von Ranke begann mit diesem historisch-politischen Aphorismus seine Biographie des preußischen Staatskanzlers Fürst Karl August von Hardenberg. Lothar Gall beruft sich gleich zu Anfang seines biographischen Essays „Hardenberg – Reformer und Staatsmann“ auf diesen klassischen Satz und gibt damit zu erkennen, mit den „Grundwahrnehmungen“ des früheren großen Geschichtsschreibers übereinzustimmen. 

Hardenberg, 1750 geboren, war noch ganz und gar ein großer Herr des vorrevolutionären Ancien régime. Als solcher mißtraute er abstrakten Gedanken und Konstruktionen, die einen leicht zum Gefangenen von Illusionen über das Wirkliche machen. Umfassend literarisch und wissenschaftlich gebildet, ein Geigenvirtuose, geschulter Architekt und Kenner aller schönen Künste, weit gereist in Europa und vielsprachig, allgemein geschätzt wegen seiner „Amönität“, seiner unerschütterlichen Liebenswürdigkeit und Anmut, ließ er sich nicht von den Plötzlichkeiten der unberechenbaren Menschen und den heftigen Metamorphosen der Gesellschaft seit 1789 verwirren und kopflos machen. 

Dem Mann der Ordnung und der Stabilität mißfielen selbstverständlich Tumult und Unregelmäßigkeiten. Als Mann der Praxis zuerst in kleinen Staaten wie Braunschweig oder Ansbach-Bayreuth war er jedoch hinlänglich vertraut mit allen Gebrechen einer altersschwachen Ordnung, die mit ihrer Schlamperei und Korruption längst zum Ärgernis geworden war. Der finanziell und im Urteil unabhängige, durch und durch souveräne Aristokrat hielt schon vor der Revolution eine umfassende Neuorganisation der Staaten und ihrer Verwaltung für unumgänglich, in denen er wirkte. 

Er verwarf die Revolution und jede auf sie fixierte Gegenrevolution. Das Gegenteil der Revolution schien ihm wünschenswert, nämlich ein durchdachter, planmäßiger Übergang zu einem die Freiheiten der Bürger voraussetzenden Rechts- und Kulturstaat. In diesem Sinne gehörte er zu den Reformern Preußens, die zusammen mit König Friedrich Wilhelm III. vor allem nach der Niederlage gegen Napoleon 1806 die preußische Monarchie von Grund auf erneuerten und veränderten. 

Der beste Staat ist der am besten verwaltete. Aber nicht der geistlose Maschinenstaat öder Funktionsprozesse wie bisher, sondern ein Staat, der seinen Bürgern Selbständigkeit gewährt und sie zur Mitarbeit auffordert. Die freie Tätigkeit in den vielen Einrichtungen der Selbstverwaltung setzte allerdings frei gewordene Bürger voraus, die auf den Schulen und Hochschulen wie im geselligen Verkehr zur Übung ihrer Denkkraft und zu geistiger Unabhängigkeit, nicht zum Sammeln von Kompetenzen und Wissensbeständen erzogen werden sollten. 

Deshalb gehörte zu den vielen Verwaltungsreformen eine gründliche Bildungsreform. Eine solche Revolution im guten Sinne, wie Hardenberg meinte, machte frei von staatlicher Bevormundung und Gängelei. Sie ermöglichte eine innere Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz, die dem Staat als Vernunftstaat und nicht mehr als Fabrik zur Fabrizierung genormter Funktionselemente eine sittliche Würde verschaffte. Das nannte Hardenberg, „demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung: dieses scheint mir die angemessene Form für den gegenwärtigen Zeitgeist. Die reine Demokratie müssen wir noch dem Jahr 2440 überlassen, wenn sie anders je für den Menschen gemacht ist.“ 

Als Mann des königlichen Staates und als gelernter Preuße blieb ihm Deutschland ein geographischer Begriff, höchstens als Kulturraum zu einer geistreichen Idee überhöht. Die Nation hatte Frankreich gründlich diskreditiert. Wie Metternich dachte auch Hardenberg nach dem Sieg über Napoleon nicht an deutsche Einheit, sondern an Einigkeit, die er unter den locker im Deutschen Bund zusammengefaßten Staaten im friedlichen Dualismus Österreich und Preußen hergestellt sah. Diese Eintracht sollte ein starkes Deutschland ermöglichen, das Franzosen und Russen auseinanderhielt und beide zum Vorteil der Ruhe in Europa daran hinderte, für ihre militärischen und diplomatischen Akrobatensprünge zu ihrem Schauplatz weiterhin wie früher Deutschland und Italien zu wählen. 

Mit Restauration hatte diese Politik nichts zu tun. Es führte kein Weg mehr zurück in eine ohnehin unzulängliche Vergangenheit. Es ging nur darum, nach 1815 auf den Trümmern des alten Europa zu einer halbwegs stabilen Ordnung nach den Kriegen mit der Revolution und Napoleon zu gelangen, ohne der weiteren Bewegung in der immer fortschreitenden Geschichte den Weg zu versperren. Insofern erkannte der kompromißfähige Hardenberg durchaus das Wesen seiner Zeit und überließ klugerweise manche Verbesserungen und Veränderungen dem bedächtigen, aber folgerichtigen Gang der königlichen Regierung. Preußen verdankt ihm Jahrzehnte, die zu den unerschöpflich anregenden seiner Geschichte gehören. 

Lothar Gall: Hardenberg. Reformer und Staatsmann. Piper Verlag, München 2016, gebunden, 283 Seiten, Abbildungen, 24 Euro