© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Frisch gepresst

Europas Trauma. Kaum hatte der britische Historiker und bekannte Hitler-Biograph Ian Kershaw die 70 überschritten, ließ ihn der Ehrgeiz nicht ruhen, eine zweibändige Geschichte des 20. Jahrhunderts anzustrengen, deren erster Band nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Das Ergebnis ist von gewohnter Solidität und besticht durch die seinen Zunftkollegen auf der Insel gern nachgesagte Erzählkunst, die meist ohne den hierzulande gepflegten Belehrungston des geschichtswissenschaftlichen Feldherrnhügel daherkommt. Kershaw bekennt offenherzig, Wesentliches seiner Fachkollegen zusammenzutragen und betritt somit meist analytisch ausgetretene Pfade. Dennoch ist vielfach spürbar, daß jüngste Forschungen, wie jene zur Bewertung des Kriegsausbruchs 1914 ebenso wie die mit 1949 statt 1945 endende Periodisierung, ihn nicht unbeeindruckt lassen. (bä)

Ian Kershaw: Höllensturz. Europa 1914 bis 1949.  Deutsche Verlagsanstalt, München 2016, gebunden, 764 Seiten, Abbildungen, 34,99 Euro





Saul Friedländer. 1979 legte der israelische Historiker Saul Friedländer die Erinnerungen an seine durch die NS-Verfolgung geprägte Kindheit und frühe Jugend vor. 1932 in Prag geboren, flohen seine Eltern mit ihm 1939 nach Frankreich, wo er in einem katholischen Internat im Vichy-Gebiet überlebte, während seine Eltern nach Auschwitz deportiert wurden und im Vernichtungslager umkamen. Dieses Trauma von Verfolgung und Verlust bestimmte fortan alle weiteren Lebensstationen. Zunächst die Einwanderung nach Israel 1948, nachdem  Friedländer sich vom Katholizismus abgewendet, eine kurze Liaison mit dem Kommunismus beendet und sich zum militanten Zionisten gewandelt hatte. Dann die Entscheidung zum Geschichtsstudium und zur Konzentration seiner Wissenschaft auf die NS-Judenverfolgung. Von diesem Leben seit 1948, das ihn als „Historiker des Holocaust“ nach 1970 schließlich in die Sphären internationalen Ruhms trug, erzählt Friedländer im zweiten Teil seiner Erinnerungen, die auch als Beitrag zur Intellektuellengeschichte Israels zu lesen sind. (dg)

Saul Friedländer: Wohin die Erinnerung führt. Mein Leben.  Verlag C. H. Beck, München 2016, 329 Seiten, Abbildungen, 26,95 Euro





Zacharias Werner. Die letzte umfassende Monographie über den 1768 in Königsberg geborenen, 1823 in Wien gestorbenen Dramatiker Zacharias Werner erschien 1922, verfaßt vom Bonner, später Königsberger Germanisten Paul Hankamer. Schon zu dieser Zeit las man Dramen wie „Das Kreuz an der Ostsee“ (1806) und „Martin Luther oder Die Weihe der Kraft“ (1807) allein noch aus Interesse an der Geistesgeschichte der Romantik, der dieser Freund E. T. A. Hoffmanns zuzurechnen ist. Die simple Botschaft des 1810 zur katholischen Kirche übergetretenen Wiener Predigers kündete von der Veredlung der Menschheit durch Liebe und Religion. Zuvor war Werner allerdings dreimal verheiratet und als Schürzenjäger und manischer Bordellbesucher bekannt. Günter de Bruyn, der bald 90jährige Kenner der preußischen Kulturgeschichte während der „Zeit der schweren Not“ zwischen 1806 und 1815, schildert den Lebensweg dieses neurotischen Romantikers in gewohnt souveräner Manier, die für die zeittypischen Züge auch einer derartig bizarren Randfigur neue Aufmerksamkeit weckt. (wm) 

Günter de Bruyn: Sünder und Heiliger. Das ungewöhnliche Leben des Dichters Zacharias Werner. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2016, gebunden, 224 Seiten, Abbildungen, 22 Euro