© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Es läuft einiges aus dem Ruder
Thomas Schmid und Frank-Walter Steinmeier kommen in ihren Bekenntnissen zur Europäischen Union zu unterschiedlichen Bewertungen
Hans-Olaf Henkel

Müßte der Rezensent die Thesen aus den Büchern des früheren Welt-Herausgebers Thomas Schmid und Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier in einem Satz zusammenfassen, würde er schreiben: Für Steinmeier ist „mehr Europa“ die Lösung, für Schmid ein „Zuviel an Euro-pa“ das Problem. Trotzdem gibt es Gemeinsamkeiten. Beide sehen Europa in einer schweren Krise, beide glauben an die Zukunft der Europäischen Union.  

Steinmeier bezieht sich in seinem schmalen Büchlein, im Umfang eher ein Essay, auf Winston Churchills kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Zürich gehaltene Rede, in der er die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa gefordert hat. Steinmeier fügt fairerweise hinzu, daß für Churchill selbst eine Mitgliedschaft Großbritanniens nicht in Frage kam. Zwar bedauert Steinmeier den „Brexit“, geht aber auf die wahren Hintergründe nicht ein. Hier hilft Schmid, der die Ursache in seinem etwa fünfmal so umfangreichen Werk in der Europapolitik sieht, bei der „es immer nur vorangehen kann“. Daß der Brexit ausgerechnet durch die Europa- und Flüchtlingspolitik der Bundesregierung befördert wurde, findet man in keinem der beiden Bücher. 

Beide Autoren sehen die Ursache für über siebzig Jahre Frieden in der bisher erreichten europäischen Vereinigung. Daß dieser Frieden weniger durch ein „mehr an Europa“ als durch die Demokratien gesichert wurde, findet sich in diesen Büchern nicht. 

Obschon noch nie eine Demokratie eine andere angegriffen hat, was jedoch die durch Vertragsbrüche („Maastricht“, „Dublin“) bewirkte schleichende Aushöhlung der Demokratien und die durch den Euro ausgelösten Streitereien letzten Endes auch einmal für den Frieden bedeuten können, diese Überlegung hätte man gern in den Büchern gefunden.

Zwar erkennt Steinmeier an, daß „die Einführung des Euro eine erste Trübung am europäischen Erfahrungshorizont“ war, trotzdem meint er: „Das Vorgehen war richtig!“ In guter deutscher Politikertradition kritisiert er die Professoren: „Wäre Europa stattdessen nach dem Handbuch der Wirtschaftswissenschaften vorgegangen, hätten wir noch heute nichts!“ In der Tat, wir hätten heute keine dahinsiechende Eurozone, keine skandalöse Jugendarbeitslosigkeit im Süden und keine EZB, die deutsche Sparer mit Nullzinsen malträtiert und ihren Kindern riesige Schuldenberge auf die Schultern lädt. 

Steinmeier schreibt immerhin, daß Deutschland kein Hegemon sein dürfe, unterschlägt aber, daß die Bundesregierung als potentiell größter Gläubiger anderen Ländern der Eurozone dauernd ökonomische Ratschläge erteilt. Er liegt richtig, wenn er schreibt, daß „eine einheitliche Währung auf Dauer nicht ohne eine Harmonisierung der Wirtschafts- und Finanzpolitiken funktionieren“ kann. Er hält es also für richtig, wenn die unterschiedlichen fiskalischen und wirtschaftlichen Kulturen den Bedürfnissen einer Einheitswährung untergeordnet werden. Wir bekommen die Vereinigten Staaten von Europa durch die Hintertür, um den Euro zu retten.

Zwar sieht Schmid Europa „im Würgeeisen der immer engeren Union“ und beklagt anschaulich das Elend in der Eurozone, es fehlt aber ein deutlicher Hinweis auf den Zusammenhang zwischen beidem. Warum fällt es den deutschen Journalisten so schwer, die Ursache dafür zu benennen? Er führt ein flammendes und überzeugendes Plädoyer für Subsidiarität in Europa, aber daß weiterer Zentralismus die unausweichliche Folge des Einheitseuro ist, kommt auch ihm nicht aus der Edelfeder. 

Immerhin, Schmid beleuchtet Alternativen zum Einheitseuro. Als Chefredakteur der Welt-Gruppe ließ er seine Rudeljournalisten noch auf diejenigen los, die es wagten, den Euro in Frage zu stellen. Daß Steinmeier mit der Alternativlosigkeit in der deutschen Politik nichts anzufangen weiß, überrascht. Schließlich hat man von ihm Kritik an der Merkelschen „alternativlosen“ Rettung von Weltklima, Euro, Griechenland oder Flüchtlingen bisher nicht gehört. Bringt sich hier jemand bei anderen Parteien für das Amt des Bundespräsidenten in Stellung? 

Der Euro ist auch für Schmid alternativlos. „Die gemeinsame Währung kann nicht abgeschafft werden“, schreibt er apodiktisch. Warum er dann doch abgeschafft werden mußte, wird wohl in seinem nächsten Buch stehen.

Beide Autoren gehen auch auf die Flüchtlingskrise ein, ohne daß man viel Neues erfährt. Interessant sind die Nuancen in der Außenpolitik. Schmid läßt den leidenschaftlichen Rußlandfreund Karl Schlögel zu Wort kommen, der seit Putin Rußland nur noch als ein „Land, was Angst verbreitet“, wahrnehmen kann. Steinmeier schreibt nur von „Dissonanzen“, die „in unterschiedlichen, tief in die Nationalgedächtnisse eingesenkten historischen Erfahrungen“ zu suchen seien. Klingt so, als trügen die Deutschen wieder einmal die Schuld; in diesem Fall an der vor allem innenpolitisch motivierten Aggressivität Putins. Hier kommen die alten Reflexe sozialdemokratischer „Annäherung durch Anbiederung“ durch. Mutig, weil völlig gegen den deutschen medialen Mainstream, nimmt sich dagegen Schmids Beschreibung der „polnischen Kapriolen“ aus, die er zu Recht als Kapriolen deutscher Politiker in Brüssel entlarvt.  

Beide Autoren beklagen den ansteigenden Rechtspopulismus in Europa. Daß erst das sture Festhalten am Einheitseuro und dem Basteln an einem „immer engeren Europa“ zur Gründung der AfD führte, findet man in beiden Büchern ebensowenig wie den Hinweis auf die Tatsache, daß der Wiederaufstieg der im Juli 2015 von allen Umfrageinstituten totgesagten Partei allein der Merkelschen Flüchtlingspolitik zu verdanken ist. Trotzdem sind beide Bücher sehr lesenswert.

Thomas Schmid: Europa ist tot, es lebe Europa! Eine Weltmacht muß sich neu erfinden. Verlag C. Bertelsmann, München 2016, gebunden, 256 Seiten, 14,99 Euro

Frank-Walter Steinmeier: Europa ist die Lösung.Churchills Vermächtnis. Ecowin Verlag, Salzburg 2016, gebunden, 56 Seiten, 8 Euro