© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/16 / 21. Oktober 2016

Im Spannungsfeld der Weltanschauungen
Hermann Parzinger, der deutsche Frühgeschichts-Spezialist, bringt die Faszination der Archäologie anhand eines Parforceritts durch die Menschheitsgeschichte nahe
Felix Dirsch

Zu den international renommiertesten Vertretern der akademischen Disziplin Archäologie zählt Hermann Parzinger. Der Wissenschaftspolitiker, der früher Leiter des Deutschen Archäologischen Instituts war und heute als Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz fungiert, hat 2015 ein vielbeachtetes Werk über die Geschichte der Menschheit vor Erfindung der Schrift vorgelegt.

Mit seinem neuen Buch betätigt sich Parzinger als Autor mit populärwissenschaftlichen Ambitionen. Natürlich lassen sich im Rahmen eines solchen Projekts nur am Rande neue Erkenntnisse der eigenen Zunft präsentieren. Der Verfasser läßt aber keinen Zweifel daran, daß er Archäologe ist und nicht Historiker. Ohne die Methoden in extenso darstellen zu können, rekurriert er auf die gesellschaftlichen und politischen Implikationen der Archäologie. 

Bis in die unmittelbare Gegenwart sorgen Funde für Zwistigkeiten unter Staaten. Längst gibt es Debatten über den Erwerb der berühmten Porträtbüste Nofretetes, die im Zuge der Bestimmungen über Fundteilung im frühen 20. Jahrhundert nach Berlin gelangte. Noch immer umstritten ist der Umgang mit der „Beutekunst“ der alliierten Siegerstaaten, die im Zweiten Weltkrieg und danach aus Deutschland abtransportiert wurde. Ein berühmtes Beispiel ist der Eberswalder Goldschatz. Rußland als wichtigster Nachfolgestaat verweigert völkerrechtswidrig die Rückgabe der begehrten Stücke. 

Immerhin zeigt sich mitunter auch die völkerverbindende Dimension der Archäologie. Häufig arbeiten internationale Teams an historischen Rekonstruktionen. Ohne eine solche Kooperation hätte es wohl keine Wiederherstellung des legendären, seit 1945 vermißten  Bernsteinzimmers gegeben.

Die einzelnen Kapitel verbleiben stets im verbindlichen Radius der Forschung. Die Frühzeit des Menschen wird ebenso abgehandelt wie das, was üblicherweise als „kulturelle Modernität“ gesehen wird: Am Ende des Eiszeitalters, im sogenannten Jungpaläolithikum, sind erstmals in größerem Ausmaß künstlerische Betätigungen festzustellen. Nach der großen Zäsur der Seßhaftwerdung, die sich als ambivalent, aber doch zukunftsträchtig erweist, werden die frühen Hochkulturen kurz beschrieben, ebenso die Geschichte verschiedener einflußreicher Völker und Kulturen, etwa Mykener, Phönizier, Griechen, Germanen und Kelten. Über letztere existiert seit den Grabungen in Hessen, die frühkeltische Fürstengräber am Glauberg zum Vorschein brachten, aufsehenerregendes neues Wissen, das in Form einer vielbesuchten Ausstellung popularisiert wurde.

Natürlich werden wesentliche Epochen wie die des Römischen Reiches nicht ausgespart, ebensowenig wie die Entstehung Europas infolge der Völkerwanderung. Erfreulich ist, daß Parzinger auch die jüngste Geschichte und die Gegenwart mit archäologischem Blick unter die Lupe nimmt. Latrinen, Schlachtfelder oder Gefangenenlager – das alles ist ohne Artefakte aller Art, die nachträglich zutage gefördert werden, kaum adäquat zu verstehen. 2010 entdeckte man, um ein spektakuläres Beispiel der letzten Jahre zu nennen, bei Grabungen in der Nähe des Berliner Rathauses Skulpturen aus der Zeit der Klassischen Moderne im Bauschutt. Sie sollten im Zuge nationalsozialistischer Säuberungen gegen „entartete Kunst“ verschwinden.

Ohne Politische Korrektheit geht es aber auch bei Parzinger nicht. Am Ende der Schrift wird die Bedeutung der Archäologie als „mitten im Leben“ herausgestellt: Flüchtlinge werden 2016 auf der Berliner Museumsinsel zu Museumsführern ausgebildet. Daß ein solch peripheres Ereignis kaum repräsentativ ist für die vielfältigen Aktivitäten dieses Faches, braucht kaum erwähnt zu werden. Vielmehr handelt es sich um nicht mehr als den Versuch der Instrumentalisierung der „Flüchtlingspolitik“ gemäß dem Gusto der Regierenden. Hier stellt sich Parzinger, ohne sich dessen bewußt zu sein, in negative Traditionslinien der eigenen Disziplin. Einzuwenden ist weiter, daß außereuropäische Kulturen zu wenig berücksichtigt werden. An dem informativen Charakter von Parzingers Abhandlung ändern diese Hinweise indessen nichts.

Hermann Parzinger: Abenteuer Archäologie. Eine Reise durch die Menschheitsgeschichte, C.H. Beck, München 2016, gebunden, 254 Seiten, 19,95 Euro