© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/16 / 28. Oktober 2016

Exportware Mord und Totschlag
Kriminalität: Mittelamerikanische Jugendbanden erobern Europa / Spanien und Italien besonders betroffen
Michael Ludwig

Mailand ist dabei, sich zu einem Zentrum mittelamerikanische Jugendbanden zu entwickeln, die an Grausamkeit weltweit ihresgleichen suchen. Immer wieder sorgen sie mit ihren gewalttätigen Überfällen für Schlagzeilen – zuletzt als drei ihrer Mitglieder einem Lokführer mit einer Machete den Arm abschlugen. Er wollte einem Zugbegleiter zu Hilfe kommen, der die Latinos beim Schwarzfahren erwischt hatte. Eine Blutspur zog sich quer über den Bahnsteig, auf den sich der Schwerverletzte flüchtete. Den Ärzten gelang es, das Leben des Lokführers zu retten und ihm später den Arm sogar wieder anzunähen.

Nur 349 Kilometer Luftlinie von München entfernt braut sich etwas zusammen, dem europäische Polizei-Organisationen weitgehend machtlos gegenüberstehen. Das Schreckenswort heißt „Maras“, es stammt aus dem Spanischen und steht für brutale Jugendgangs. 

Junge Immigranten anfällig für Bandenmythos  

„Dieses Jahr wollten wir den Unabhängigkeitstag unseres Heimatlandes in einem öffentlichen Park feiern, aber es war einfach zu gefährlich. Möglicherweise hätten wir Besuch von Mareros bekommen, wobei das Wort Besuch das Verhalten der Bandenmitglieder nur sehr beschönigend wiedergibt“, zitiert die spanische Tageszeitung El Mundo Deidamia Calderón, die in El Salvador geboren wurde und in den siebziger Jahren in die norditalienische Industriemetropole kam, um dort Arbeit zu finden. Deidamia ist Mitbegründerin der Communidad Monsenor Romero, einer kirchlichen Einrichtung, auf deren Gelände die Feierlichkeiten schließlich stattfanden – gesichert durch einen hohen Drahtzaun und Patrouillen der italienischen Polizei.

Derzeit sitzen 15 Mareros wegen Mord, Totschlag oder anderer schwerer Verbrechen in einem Mailänder Gefängnis ein. „Die Fälle laufen fast alle nach dem gleichen Muster ab“, sagt die Sozialarbeiterin Anna Viola, „es handelt sich um Jugendliche, die mit 13 oder 14 Jahren durch die Familienzusammenführung nach Italien kamen, nachdem es ihren Eltern gelungen war, sich dort eine überaus bescheidene Existenz aufzubauen. Die meisten wollten gar nicht nachkommen – sie kannten ihre Mutter fast nur vom Skypen, trafen auf eine fremde Sprache und fremde Kultur, auf ein kaltes Klima.“

Der Psychologe Gianluigi Pino, der ebenfalls Mareros betreut, ergänzt: „Das sind Jugendliche, die keinen Platz in der Gesellschaft finden. Die Bande verwandelt sich in ihre Familie.“ Fast alle, so die beiden Betreuer, tragen eine ungeheure Wut in sich.

Durch den Zuzug in den vergangenen Jahrzehnten ist in Norditalien eine ansehnliche Latino-Gemeinde entstanden. Wie viele Mittel- und Südamerikaner es genau sind, weiß niemand. Alicia Pérez, Vizepräsidentin der Communidad Salvadorena de Lombardia, nennt die Zahl von 40.000 Salvadorianern, die offiziell registriert sind. Hinzu kommen Immigranten aus Honduras, Guatemala, Nicaragua, aber auch aus den südamerikanischen Staaten Mexiko, Venezuela und Bolivien, wo die Maras ebenfalls Fuß gefaßt haben.

Um die Bedeutung der Maras zu erfassen, muß man ihre Geschichte kennen. In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts herrschten in den zentralamerikanischen Staaten blutige Bürgerkriege. Die Folge: Viele Familien flüchteten in die USA, vor allem in den Großraum von Los Angeles. Die Jugendlichen schlossen sich zu Banden zusammen – die beiden bekanntesten gaben sich die Namen „Mara Salvatrucha“ und „Barrio 18“. Schon damals erregten sie wegen ihrer Brutalität öffentliches Aufsehen. 

Als Anfang der neunziger Jahre die Bürgerkriege ein Ende gefunden hatten, schob die amerikanische Regierung alle Mittelamerikaner ab, die zu einer Gefängnisstrafe von mindestens einem  Jahr verurteilt worden waren – eine halbe Million. Als sie in ihre Heimatländer zurückgekehrt waren, zogen sie dort ihre verbrecherischen Netzwerke auf.

Madrid warnt vor Expansionsdrang der Gangs 

Wer ein Marero werden will, ist in der Regel zwischen zehn und sechzehn Jahre alt. Er muß eine besondere Aufnahmeprüfung ablegen: einen Mord begehen oder sich einem zwölfköpfigen Prügelkommando stellen, das 13 Minuten wie besinnungslos auf ihn einschlägt; wenn er überlebt, ist er mit dabei. Mädchen dürfen zwischen Prügel und der Vergewaltigung durch drei Jugendliche wählen. „In Guatemala wurden in den letzten zwei Jahren 300 Busfahrer getötet, weil das in dem Land die Bedingung für die Aufnahme ist“, schreibt der Schweizer Journalist Andreas Böhm in seinem Buch „Teuflische Schatten“, das sich mit diesem Thema befaßt. Man geht davon aus, daß es in Zentralamerika rund 100.000 Mareros gibt.

Ist man Mitglied der Bande, beginnt die sogenannte „vida loca“, das verrückte Leben – es besteht aus Menschen-, Drogen- und Waffenhandel, Prostitution, Erpressung, Mord und Entführung, aber auch aus dem ungehemmten Konsum von Drogen, Alkohol und Sex. Alle Mareros sind am ganzen Körper tätowiert. Die Tattoos verraten, zu welcher Bande sie gehören, wie viele Menschen sie ermordet und wie viele Freunde sie verloren haben – ein Sarg für jeden Ermordeten, eine Träne für jeden verlorenen Freund. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Marero beträgt, nicht zuletzt wegen der Bandenrivalität, ganze drei Jahre.

Wesentlich dramatischer als in Italien ist die Situation in Spanien. Mit der jahrelangen Immigration aus Zentral- und Südamerika, die sich vor allem durch die gemeinsamen Wurzeln von Geschichte und Sprache besonders stark entfaltet hat, ist auch das Problem der Jugendkriminalität über den Atlantik geschwappt. Vor allem die beiden Großstädte Madrid und Barcelona klagen über die Umtriebe der Maras. In der vergangenen Woche wies der Oberstaatsanwalt der spanischen Hauptstadt, Jesus Caballero Klink, darauf hin, daß sich die Situation dramatisch verschlechtert habe. Als Konsequenz forderte er die Auflösung der mittel- und südamerikanischen Jugendbanden. Seinen Angaben zufolge wurden im vergangenen Jahr 139 Bandenmitglieder festgenommen, 2014 waren es noch wesentlich weniger, nämlich 77.

Mitte September verbuchte die spanische Polizei einen weiteren Erfolg. Denn ihr ging, in enger Kooperation mit Polizeikräften aus Honduras und El Salvador, einer der mutmaßlichen Anführer der Bande Barrio 18, alias der „Mexikaner“ ins Netz. Madrid wertet dies als Zeichen dafür, daß die zentralamerikanischen Straßenbanden ihre Präsenz in Europa zu erweitern suchen.