© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/16 / 28. Oktober 2016

Viel mehr als eine neue Seidenstraße
Transportwege: Vor hundert Jahren wurde die Transsib komplettiert / Heute bestimmt China die Globalisierung
Thomas Fasbender

In diesem Monat hat die Entwicklungs- und Reformkommission Chinas einen Fünfjahresplan für die bessere Schienenanbindung nach Europa beschlossen. Die Pekinger Zentralregierung übernimmt damit die Kontrolle über das Transportnetzwerk China Railway Express, das seit 2013 eine wachsende Alternative zur Containerschiffahrt und dem Lufttransport ist. Drei Bahnstrecken sollen den Güterverkehr von 43 chinesischen Transitknoten nach Europa bündeln.

Ganz neu ist das nicht: Bereits 1904 war das damals deutsche Tsingtau am Gelben Meer direkt mit Mitteleuropa verbunden. Die Bahnfahrt via Schantung-, Ostchinesische und Transsibirische Eisenbahn dauerte zwei Wochen. Die heutige durchgehende Transsib wurde hingegen erst vor hundert Jahren fertiggestellt – durch das „Wunder vom Amur“, die Eisenbahn- und Straßenbrücke über den fernöstlichen Amur-Fluß unweit der russischen Stadt Chabarowsk. Am 18. Oktober 1916 wurde die Vorgängerin der heutigen Brücke auf den Namen des Zarewitsch Alexej getauft; sie war der nicht ganz freiwillige Schlußstein der Transsib. Seit jenem Tag existierte wieder ein durchgehender, heute 9.289 Kilometer langer Schienenstrang von Moskau nach Wladiwostok (übersetzt: „Beherrsche den Osten“) am Japanischen Meer.

Eigentlich war die Verbindung bereits 1903 fertiggestellt worden, doch als Rußland seinen Einfluß in der Mandschurei nach dem verlorenen Krieg gegen Japan 1905 verlor, wurde der Bau einer Nordumgehung über russisches Territorium vonnöten. Wie der Suez- und der Panamakanal gehört die Transsib zu den größten Errungenschaften der globalen Logistik jener Zeit. Entsprechend hoch war der Preis. Hunderttausende Russen, Koreaner, Chinesen und Europäer waren seit Baubeginn 1891 ein Vierteljahrhundert lang im Rahmen des Megaprojekts beschäftigt. Tausende wurden Opfer des harten Klimas, der unzähligen Unfälle aufgrund der mangelhaften Organisation, Planung und Sicherheitsvorkehrungen.

Schon bei den ersten Plänen 1870 standen geopolitische und wirtschaftliche Interessen Pate. Das 19. Jahrhundert war von der Rivalität der Kolonialmächte Großbritannien und Rußland geprägt. Deren Schauplatz war auch das schon damals bevölkerungsreiche China, wo die sieche Qing-Dynastie nach über zweihundertjähriger Herrschaft vor ihrem Ende stand. Die Westmächte drückten vom Pazifik, Rußland von Norden her. So verband sich mit der Transsib auch die Hoffnung, das Teehandelsmonopol der Engländer zu brechen und via Rußland chinesischen Tee nach Europa zu bringen.

Zusätzliche Wege  für chinesische Exporte

Zwei Weltkriege sorgten dafür, daß diese erste Globalisierung ein rasches Ende fand. Ein Jahrhundert später sind es nicht mehr die Europäer, die sich erneut zur logistischen Integration des Doppelkontinents aufraffen. Seit 2013 treibt Peking unter dem Namen „One Belt, one Road“ ein neues Jahrhundertprojekt voran. Bei der „Neuen Seidenstraße“ (Transport Corridor Europe-Caucasus-Asia/Traceca) geht es nicht um einzelne Straßen oder Bahnstrecken, sondern um ein ganzes Bündel an Akquisitionen, Kooperationen und Projekten. Als Endziel, so wird gemutmaßt, strebt China eine Art logistischer Hegemonie über ganz Eurasien unter Einschluß des Mittelmeerraums an.

Dabei werden verschiedene Strategien parallel verfolgt, jeweils im Norden, im Zentrum und im Süden sowie einerseits zu Lande, andererseits auf dem Meer. Im Zentrum der Landverbindungen in Richtung Westen stehen Sibirien, Kasachstan und der Nordkaukasus. Gleichzeitig investiert die Pekinger Regierung erhebliche Mittel in den neuen pakistanischen Hafen Gwadar am Indischen Ozean. Indem chinesische Exporte künftig via Pakistan laufen, schrumpft die Abhängigkeit von der Pazifikküste sowie den Nadelöhren Südchinesisches Meer und Straße von Malakka.

Gut zwei Drittel des chinesischen Außenhandels, Rohstoffimporte ebenso wie Warenexporte, werden heute über den Wasserweg vor Singapur und das benachbarte Südchinesische Meer abgewickelt. Eine Blockade, etwa bei einem Konflikt mit den USA, träfe die chinesische Wirtschaft ins Herz. Um so stärker ist der Anreiz, mit Häfen wie Gwadar, aber auch auf dem Landweg nach Europa Alternativen zu schaffen.

Die Übernahme des griechischen Hafens von Piräus durch chinesische Investoren hat bereits 2014 Schlagzeilen gemacht. Auch in Rotterdam gehören Chinesen zu den wichtigsten Partnern. Seit Sommer dieses Jahres rollen Expreß-Güterzüge von der südwestchinesischen 14-Millionen-Metropole Chengdu nach Rotterdam. Ende 2017 sollen es statt einem schon fünf wöchentlich sein.

Zugleich haben chinesische Unternehmen für fast eine Milliarde US-Dollar den größten Hafen Panamas, Margarita Island auf der Atlantikseite, gekauft. Es ist nicht der erste Erwerb panamaischer Hafen-infrastruktur; inzwischen gehört den Chinesen dort der größte Teil aller Hafenanlagen auf beiden Seiten des Kanals. Damit entgleitet den USA, die bis 2000 sogar die völkerrechtliche Hoheit über die Wasserstraße ausübten, ein weiteres Stück Kontrolle über die Transportwege der Welt.

Im 19. Jahrhundert hieß es: „Britannia rules the waves.“ 1945 ging der Stab der maritimen Weltmacht dann an die USA. Gibraltar, die Dardanellen, die Ärmel- und Suezkanäle, der Golf von Aden, Sri Lanka, die Straße von Malakka, Singapur, Hongkong und der Panamakanal, Inselketten im Pazifik und eine starke Präsenz in den Philippinen – noch vor gut einem halben Jahrhundert waren die Lebensadern der globalen Logistik in westlicher Hand. Schritt für Schritt rückt jetzt China an diese Stelle, und das nicht als Ergebnis eines Krieges oder massiver Rüstungsanstrengungen, sondern mit Hilfe der unzähligen Dollarmilliarden, die das Land im Zuge der Globalisierung angehäuft hat.

Projekte der „Neuen Seidenstraße“: merics.org www.traceca-org.org

Züge auf der Transsibirischen Eisenbahn: transsibirische-eisenbahn.de