© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/16 / 28. Oktober 2016

Pankraz,
der Terror und die Toten ohne Begräbnis

Es war eine Sternstunde fürs deutsche Fernsehen, die nicht so schnell aus dem allgemeinen Gedächtnis verschwinden sollte: der Film „Terror“ nach dem gleichnamigen Theaterstück von Ferdinand von Schirach am vorletzten Montag. Er löste gewaltige Emotionen und heftigste Debatten aus, es ging endlich einmal um extrem wichtige, geradezu existentielle Entscheidungen, jeder Zuschauer fühlte sich direkt betroffen. 

Zur Erinnerung: Gezeigt wurde ein Kriminalprozeß gegen einen Kampfpiloten der Bundeswehr, der ohne klaren Befehl ein Verkehrsflugzeug mit 164 Passagieren an Bord abschießt, weil er weiß, daß die Maschine in die Hand von Selbstmord-Terroristen gefallen ist, welche sie in ein nahes Fußballstadion mit 70.000 Besuchern stürzen wollen. Der Film wird nach den Plädoyers von Staatsanwalt und Verteidiger unterbrochen, um die Fernsehzuschauer selbst entscheiden zu lassen. Schuldig oder nicht schuldig, lebenslänglich oder Freispruch?

Das Urteil fiel eindeutig aus: 89 Prozent plädierten für Freispruch. Fast nur gelernte Juristen, darunter Gerhart Baum und Heribert Prantl, legten sich quer, verwiesen auf die Rechtsprechung, die dem Piloten allenfalls mildernde Umstände eingeräumt hätte, auf die Würde des Menschen, die individueller Entscheidungsfreiheit in Fällen, wo es um Tod oder Leben, geht, keinen Spielraum zubilligt. Aber die große Masse des Publikums sah es eben anders. 164 Tote hier, 70.000 Tote dort – da fällt die Entscheidung scheinbar leicht, oder?


Die Wahrheit ist jedoch: Die Entscheidung fällt keineswegs leicht, ganz im Gegenteil, sie führt in ein Dickicht existentieller Befindlichkeiten, in denen überhaupt keine klaren Entscheidungen mehr möglich sind und selbst das allerfeinste, allergerechteste Gesetzbuch nicht helfen kann. Wenn das Stück einen Fehler hat, dann den, daß es zu sehr der Logik von Gesetzgebern vertraut – im Anblick realer Situationen, die letztlich jeder Logik und Vernunft hohnsprechen und uns in seelische Abgründe führen, in denen jede Entscheidung ins Verhängnis führt.

Kollegen des Dramatikers Schirach aus der sogenannten „Existentialistenzeit“ in den vierziger und frühen fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts haben das bereits in unübertrefflicher Weise kenntlich gemacht, Jean-Paul Sartre mit seinem Stück „Tote ohne Begräbnis“, Brendan Behan mit seinem damals viel gespielten Stück „Die Geisel“. Die Protagonisten sind dort keine Terroristen im heutigen Sinne, sondern zumindest im eigenen Verständnis „Freiheitskämpfer“, „Widerständler“ – und trotzdem entgehen sie dem Abgrund nicht. 

Da ist zum Beispiel der Resistanceheld, den die „Faschisten“ gefangen haben und foltern, damit er die nächsten Anschlagspläne seiner Truppe preisgibt. Er hält jedoch stand. Aber dann sperren sie ihn mit „harmlosen“, völlig unpolitischen Menschen zusammen, die sie wahllos von der Straße aufgelesen haben, und foltern nun diese, und er, der Kämpfer, muß dabeisein und zusehen. Und die Folterer rufen ihm zu: „Packst du endlich aus? Wenn nein, dann werden wir dem da den Bauch aufschlitzen und die Augen ausstechen und ihn totschlagen. Und dann kommt der nächste dran. Oder du packst endlich aus.“

Bei Sartre erzählt der Kämpfer schließlich, um weiteres Morden an unschuldigen Landsleuten abzuwenden, von irgendwelchen von ihm eilig zusammengelogenen, aber glaubhaft klingenden Plänen. Darauf läßt man von ihm ab, und er bekommt eines Tages sogar ein höhnisches Dankeschön von den Folterern zu hören. Denn die Widerstands-organisation, der er angehörte, hatte ihre Pläne nach seiner Festnahme abgeändert, und zwar genau in die Richtung, die er als rein fiktiv „preisgegeben“ hatte. Jeder persönliche Heldenmut und alle hingenommenen Opfer waren umsonst, ja kontraproduktiv gewesen. „Die Welt ist absurd“ (Albert Camus).


Und diese Absurdität waltet, aller Gesetzgebung zum Trotz,  auch in dem Stück des gelernten Juristen Ferdinand von Schirach und in dem danach gedrehten ARD-Film. Woher will denn der Kampfpilot so genau wissen, wie viele Opfer ein Sturz der Verkehrsmaschine auf das vollbesetzte Stadion haben würde? So viele Zufälle spielen dabei doch eine Rolle! Schirachs 70.000 Fußballfans sind nicht weniger fiktiv als die Operationspläne des Resistancekämpfers bei Sartre. Ihr Seinsstatus ist die Möglichkeit, nicht die Wirklichkeit. 

Höchst wirklich sind dagegen die 164 Fluggäste in der Verkehrsmaschine. Ihr Leid ist dem Kampfpiloten zwar nicht so ungeheuer konkret sichtbar wie dem Resistancekämpfer das Leid der von der Straße aufgelesenen Verhöropfer, doch dem menschlichen Mitfühlen tut das wenig Abbruch. Wir solidarisieren uns spontan mit beiden. Und wer weiß? Vielleicht sind die Flugpassagiere, wenigstens einige von ihnen, gerade dabei, sich mit Todesmut auf die Suizid-Terroristen zu stürzen, sie zu überwältigen, ihnen Waffen und Sprengstoff abzunehmen. Da würde  dann ein Abschuß zur selben Zeit die Absurdität der Affäre fast allzu grell beleuchten. 

Nicht immer ist bloße Quantität der Maßstab verantwortlichen Handelns, auch wenn es um Tod oder Leben geht. Hier in der Verkehrsmaschine 164 völlig „unschuldige“, durch dämonischen Zufall in Todesnot geratene Menschen, mit denen wir spontan mitfühlen, und unter ihnen vielleicht sogar einige Helden im genauen Sinne des Wortes, die nicht in Verzweiflung versinken und zu großer Tat finden – dort im Fußballstadion Tausende von Fans, die sich entspannen, die unterhalten werden wollen, unter ihnen aber vielleicht nicht wenige Hooligans mit Krawallabsichten. Da fällt das Entscheidenmüssen so manchem Menschenfreund sehr schwer.

„Das Leben ist eines der härtesten“, pflegte der Existentialist Brendan Behan zu sagen. Als er 1964, erst 41 Jahre alt, von Alkohol- und Medikamentenkonsum zerfressen, in einem Dubliner Krankenhaus verstarb, schrieb der irische Daily Express in seinem Nachruf präzise, aber erbarmungslos: „Er war zu jung, um zu sterben, aber zu betrunken, um zu leben.“