© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/16 / 28. Oktober 2016

Ein Rebell, der seine Hoffnungen und Würde nicht begräbt
Kann man Haltung essen? Gabriel García Márquez’ Roman „Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt“ und die heutige politisch-geistige Lage
Günter Scholdt

Große Literatur war stets mehr als nur aktualitätsbezogene Parteinahme für eine Richtung oder Sache. Und der Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez als einer der wichtigsten Erneuerer der südamerikanischen Epik hat gewiß Bedeutendes verfaßt. Somit mag, auch wer mit den politischen Ansichten des bekennenden Sozialisten und Fidel-Castro-Freunds fremdelt, von seinen Büchern profitieren, allen voran dem vor sechzig Jahren begonnenen „Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt“.

Nicht in Spanien, sondern Kolumbien spielt dieser „kürzeste Roman der zeitgenössischen lateinamerikanischen Literatur“, wie sein Übersetzer Curt Meyer-Clason schrieb. Doch der Geist, der den Text durchweht, erinnert an Kastilien, an la Mancha und eine Welt, die gerade uns Deutschen mehrheitlich entglitten ist. Hat sie sich doch noch ein Ethos bewahrt, das auf Ehre und Stolz fundiert ist. Was García Márquez uns mit diesem Oberst präsentiert, ist der traurigste Don Quijote, der sich denken läßt. Daher erkennt man ihn als literarischen Artgenossen erst nach wiederholtem Blick. Nur seine Klappergestalt, sein nicht mehr standesgemäßes Äußeres, das er allerdings nach Kräften pflegt, vor allem aber seine noble Haltung, mit der er Krankheiten, Demütigungen und Schicksalsschläge erträgt, weisen die Spur.

Auch ihm wurde übel mitgespielt. Seit über fünfzig Jahren vertröstet man den ehemaligen Schatzmeister der Revolution im Bezirk Macondo hinsichtlich seiner Veteranenpension. Sein täglicher Gang zum Postschiff, von dem er endlich die Wende erhofft, erinnert an vergebliche Sehnsüchte in Becketts „Warten auf Godot“. Sein Sohn Augustín wurde beim Austeilen von Flugblättern durch Handlanger der Militärjunta erschossen. An ihn erinnert einzig ein Kampfhahn, dessen Futterkosten den völlig Verarmten zusätzlich belasten.

Seine schwer asthmatische Frau drängt daher zu dessen Verkauf, und an der Grenze zum Verhungern geht der Oberst schließlich darauf ein. Doch als er ihn dann im Trainingscamp kämpfen sieht und die Begeisterung bei den Untergrundkameraden seines Sohnes spürt, ändert er seinen Entschluß. Das tapfere Tier gilt ihm nun als Zeichen lebendiger Verbundenheit mit den aufbegehrenden jungen Kräften, als Signal eines wieder erwachten Muts.

Der Text endet mit der völlig verzweifelten Frage seiner Frau, was man in den verbleibenden Wochen bis zum ersehnten Wettkampf-Gewinn denn essen solle, und der provozierenden Schlußpointe: „Der Oberst hatte fünfundsiebzig Jahre, fünfundsiebzig Jahre seines Lebens, Minute für Minute gebraucht, um diesen Augenblick zu erreichen. Er fühlte sich rein, unbedingt und unbesiegbar in der Sekunde, als er antwortete: ‘Scheiße’.“

Oppositionelle bringen bemerkenswerte Opfer

Das Buch ist ein unerbittliches, brutales, männliches Stück Literatur, das allerdings keine vorschnelle Parteinahme zugunsten eines der Ehepartner zuläßt. Beide sind als tapfere Charaktere gezeichnet, die ihre gegensätzlichen Standpunkte zwischen Realismus und Idealismus mit nachvollziehbarer Berechtigung ausfechten.

Doch den Schlußakzent setzt der Oberst als Hoffnungsträger, indem er seine politische und persönliche Niederlage nicht mehr als Ende aller Träume sieht und auch in scheinbar aussichtsloser Lage seinen Beitrag für eine lebenswertere Zukunft leistet. Dem entspricht sein grimmiger Humor, der aus Isländersagas entnommen scheint: „‘Und du stirbst langsam an Hunger’, sagte die Frau. ‘Damit du dich davon überzeugst, daß man Haltung nicht essen kann.’ Der Blitz unterbrach sie. Der Donnerschlag barst auf der Straße, drang ins Schlafzimmer und rollte unter das Bett wie ein Haufen Steine. Die Frau sprang mit einem Satz zum Moskitonetz und griff nach dem Rosenkranz. Der Oberst lächelte. ‘Das kommt davon, wenn man seine Zunge nicht im Zaum hält’, sagte er. ‘Ich habe dir immer gesagt, daß Gott mein Parteigenosse ist.’“

Die exemplarische Botschaft dieses Buches lautet, daß man nicht alle Menschen brechen kann. Sie läßt sich gut und gern auf die aktuelle politische und geistige Lage beziehen respektive auf den kleinen Kreis alternativer Denker und Charaktere, die sich seit Jahrzehnten um Deutschland gesorgt und für ihre Ideen teils bemerkenswerte Opfer gebracht haben. Auch sie hatten oder haben von einem vielen Bürgern gegenüber illoyalen Staat wenig zu erwarten. Im günstigsten Fall wurden sie nicht persönlich behelligt von einem nach innen äußerst aggressiven „Fortschritts“-Imperium, einschließlich jener Clique von Politikern, Mediengewaltigen und einer einseitig politisierten Justiz, deren Orientierung am Grundgesetz äußerst selektiv erfolgt. 

Der Flugblätter verteilenden Opposition in der getarnten Schneiderwerkstatt Macondos entspricht unsere von Staatsseite her behinderte Gegenöffentlichkeit. Eine weitreichende publizistische Infrastruktur fehlt noch. Kein Großverlag, keine Fernseh- oder Radiostation, kein Theater und kein Subventionstopf favorisiert alternative Kräfte. Vielfach werden ihnen öffentliche Plattformen verweigert. Stattdessen konzentriert sich, zwangsfinanziert durch uns alle, die geballte Kampagnen-Artillerie angeblich Gutgesinnter auf diejenigen, die der Staat noch einmal nötig haben wird, wenn die Krise den erwartbaren Ausgang findet. Und falls sich die etablierte Berichterstattung überhaupt herabläßt, über alternative Konzepte zu berichten, geschieht dies üblicherweise in so tendenziöser Verzeichnung, daß man den meisten besser die Tür weist.

Wie im Fall von Gevatter Don Salvas, der seinen geschäftlich profitablen Frieden mit dem Bürgermeister gemacht und für Wohltätigkeiten dem Oberst gegenüber wenig Sinn hat, fehlen häufig großzügige Geldgeber. Unter bloß so genannten „Konservativen“ zu weilen, die ihre Selbsteinschätzung über Stilmöbel, Maßanzüge oder exquisite Weltreisen definieren und von persönlichen Opfern und Engagements wenig halten, hat etwas Desillusionierendes. Das gleiche gilt für Pseudoliberale, die vergessen haben, daß bereits von ihrem Namen her der zentrale Auftrag darin besteht, die Freiheit zu schützen.

An die eine Chance glauben, die vielleicht noch kommt

Außenseitern droht zudem eine gefährdete Flanke. Man denke an den Ehestreit mit dem Vorwurf, man könne „Haltung nicht essen“. Denn einerseits honoriert die Gesellschaft die Unterwerfung mit Karrierechancen. Andererseits behindert sie unbotmäßige Oppositionelle in ihrer persönlichen und beruflichen Entfaltung, was manchen nahelegt, das Wohl der Familie über das der politischen Gemeinschaft zu stellen. Und doch gibt es Nonkonformisten auch hier. Es gibt den Bruch mit jenem verhängnisvollen politisch-medialen Kartell, das uns alle in die Arme zeitgemäß kostümierter Großer Brüder und Schwestern führen möchte. Es gibt ihn jüngst erfreulicherweise sogar zahlreicher als in den vergangenen Jahrzehnten. 

All denen mag García Márquez’ Oberst, dieser – laut Meyer-Clason – „fast kindliche Rebell, der eine saubere und gerechte Welt sucht“, Flugblätter verteilt, stets Haltung zeigt, seiner Frau Schlimmstes zu ersparen trachtet, aber seine Hoffnungen und Würde nicht begräbt, als Vorbild dienen. „Dum spiro, spero“, heißt es bei Cicero, solange er noch atme, hoffe er. In diesem Sinne bleibt der Oberst bereit, an die eine Chance zu glauben, die vielleicht doch noch kommt. Er und sein Kampfhahn sind nicht käuflich.

Gabriel García Márquez : Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt. Roman. S. Fischer, Frankfurt am Main, broschiert, 128 Seiten, 7,90 Euro