© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/16 / 28. Oktober 2016

Das ungewollte Geschenk
Polen erscheint wieder auf der Landkarte: Die Proklamation des Regentschaftskönigreichs unter deutscher Regie im Herbst 1916
Jürgen W. Schmidt

Einsame politische Entscheidungen über die Köpfe des Volkes hinweg lohnen sich nicht. Diese Erfahrung von Bundeskanzlerin Angela Merkel ist nicht neu und bereits ihr früher Amtsvorgänger Reichskanzler Theodor von Bethmann Hollweg traf mit seiner Zustimmung zur Proklamation des Regentschaftskönigreichs Polen am 5. November 1916 eine grandiose Fehlentscheidung, deren Folgen Deutschland schon knapp zwei Jahre später schmerzlich zu spüren bekam. 

Dabei hatte bei Kriegsausbruch 1914 eigentlich keine der kriegführenden Seiten eine Wiederherstellung der polnischen Staatlichkeit im Sinn. Die beiden Kaiserreiche Deutschland und Österreich-Ungarn hatten einst zu den Profiteuren der polnischen Teilung gehört, und die englisch-britische Entente besaß in Rußland ihren wichtigsten Verbündeten. Deshalb wäre beiderseits eine Unterstützung polnischer Nationalisten, welche hartnäckig eine eigene Staatlichkeit anstrebten, kontraproduktiv gewesen. 

Russisch-Polen (Kongreßpolen) war ein Bestandteil des Russischen Imperiums, auf den ein siegreiches Zarenreich niemals freiwillig verzichtet hätte, ebenso wie das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn auf ihre polnisch besiedelten Territorien. Doch die großen Siege der Mittelmächte 1915 veränderten die politische Lage grundlegend. Russisch-Polen wurde komplett von den Siegern besetzt. Hier entstand eine Zivilverwaltung der Mittelmächte, das Generalgouvernement Warschau unter General Hans von Beseler. Sogleich tauchten Gedanken über die künftige Verwertung dieses Territoriums auf. 

Hatte man auf deutscher Seite bislang allenfalls über die Annexion dünner „Grenzstreifen“ Russisch-Polens nachgedacht, avancierte jetzt das besetzte Russisch-Polen zur Prämie für Rußland, falls das militärisch schwer angeschlagene Zarenreich auf einen Separatfrieden eingehen sollte. Doch Rußland ließ damals, zu seinem schweren Schaden, seine westlichen Verbündeten nicht im Stich. 

Polnische Hoffnung auf Sieg gegen zaristisches Rußland

Inzwischen verwalteten deutsche Behörden Russisch-Polen sehr liberal, viel liberaler als die Polen es vom russischen Zarenreich gewohnt waren. Deutscherseits baute man mit gewohnter Gründlichkeit neue Verwaltungsbehörden für die Polen auf und man führte demonstrativ an der wiedereröffneten Universität Warschau die polnische Unterrichtssprache ein. Ab sofort richteten sich polnische nationale Hoffnungen auf das siegreiche Deutschland, und man begann den Reichsbehörden, vor allem aber dem sehr gutgläubigen, doch politisch unerfahrenen Generalgouverneur von Beseler vorzugaukeln, daß die siegreichen Deutschen sich leicht und dauerhaft die Dankbarkeit der Polen verdienen könnten, würde man ihnen nur den alten Wunsch erfüllen, wieder einen eigenen Staat zu besitzen. Die deutsche Oberste Heeresleitung könne im Zeichen dieser Dankbarkeit mit einem polnisches Heer von mehr als einer Million Soldaten rechnen, welches an der Seite der Mittelmächte die allen Polen verhaßten  Russen bekämpfen werde. 

Den Österreichern gegenüber wurde ein anderes Lockmittel angewandt, indem man sich polnischerseits angeblich gut vorstellen konnte, daß in dem neu zu schaffenden „Königreich Polen“ eine Nebenlinie der Habsburger regieren werde mit einem österreichischen Erzherzog als polnischem König an der Spitze. 

Für Berlin besaß diese Lösung den Charme, einerseits den schwächelnden österreichischen Bundesgenossen bei der Stange zu halten und Deutschland im Gegenzug ohne österreichische Vorbehalte eigene Annexionen und künftige Satellitenstaaten im Baltikum zu ermöglichen. Bei diesen phantasievollen Projekten war ein vormaliger preußischer Generalstabsoffizier und eigentlich ganz aufrechter Anhänger der Hohenzollernmonarchie maßgeblich beteiligt. Es handelte sich um den kaisernahen Grafen Bogdan Hutten-Czapski (1851–1937), einen ethnischen Polen und Katholiken. 

Gerade weil sich der als aufrechter Preuße bekannte Hutten-Czapski so intensiv für das zu schaffende Königreich Polen einsetzte, ließen sich in Deutschland die erheblichen politischen Widerstände gegen jenes polnische Staatsgebilde überwinden. Der deutsche Ostmarkenverein, welcher im Osten Preußens bislang den Kampf gegen die „polnische Gefahr“ geführt hatte, sprach daher tief enttäuscht vom „Sieg der Ideologie der Volksbefreiung“. 

Doch obwohl die deutsche Führung ab dem 5. November 1916 weiterhin am künftigen polnischen Staat baute, ließen die versprochenen Hunderttausende polnischer Kriegsfreiwilliger auf sich warten. Die 1914 gegründete, unter k.u.k. Oberbefehl stehende Polnische Legion wurde zwar im November 1916 mit ihren etwa 25.000 Mann als „Polnische Wehrmacht“ unter deutsches Kommando gestellt, allerdings wegen politischer Unzuverlässigkeit, die sich spätestens nach der „Eidkrise“ im Juli 1917 offenbarte, aufgelöst und interniert. 

Als nach der russischen Oktoberrevolution 1917 den Regierungen in England und Frankreich klar wurde, daß das Zarenreich als Kriegsverbündeter nicht mehr zu gebrauchen war, änderte sich hier die Haltung zur polnischen Frage. Nunmehr erschien der Gedanke an ein ententefreundliches Polen, neben Russisch-Polen aus den polnisch besiedelten Territorien Preußens und Österreichs bestehend, verlockend. Zudem agitierte Roman Dmowski, der sich seit 1915 in Frankreich aufhaltende Führer der nationalchauvinistischen und dezidiert antigermanischen und antisemitischen Bewegung „Nationale Demokratie“, gegen jegliche Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich, welches er als Hauptfeind der nationalpolnischen Staatsidee identifizierte.

Großpolnische Träume dank der deutschen Niederlage

Polnische Nationalisten, allen voran der Pianist Ignacy Jan Paderewski, fanden zudem das Ohr des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, der von europäischen Problemen kaum etwas verstand, und so tauchte unter den „14 Punkten“ Wilsons vom 8. Januar 1918 plötzlich als Punkt 13 die Schaffung eines unabhängigen polnischen Staates mit Zugang zur Ostsee auf. Das von Deutschland sehr blauäugig geschaffene „Königreich Polen“ begann sich zum politischen Monster zu entwickeln, und die Ostgrenze des sich der Kriegsniederlage nähernden Deutschen Reiches war plötzlich ernsthaft bedroht. 

Wie es der den Polen dieses Mal sehr glückliche, historische Zufall wollte, gehörten die drei einstigen Teilungsmächte Polens nunmehr zu den großen Kriegsverlierern, und niemand der drei konnte folglich die Entstehung eines polnischen Staates verhindern. Immerhin gewährte im November 1918 der neue polnische Staat, dessen organisatorische Grundlagen ab 1915 von Deutschland aufgebaut worden waren, den Behörden und Soldaten der einstigen deutschen Besatzungsmacht einen schmachvollen, doch ungehinderten Abzug. 

Ab 1919 kämpfte dann das nun wirklich schnell entstehende polnische Heer im Westen (Provinz Posen, Oberschlesien) und im Osten (Ukraine, Weißrußland) um möglichst günstige Grenzen für den neuen polnischen Staat. Bei den Verhandlungen in Versailles 1919 setzten Dmowski und Paderewski polnische Grenzen durch, die weit über das Siedlungsgebiet ethnischer Polen hinausgingen. Daß die hier gewaltsam entstehenden Grenzen schließlich im September 1939 zu einem neuen Weltkrieg führten, gehört zum Fluch der Tat vom 5. November 1916. 





Regentschaftskönigreich Polen 

Die Pläne, Erzherzog Karl Stephan von Österreich als neuen polnischen König zu krönen, scheiterten wegen des Widerstands Kaiser Franz Josephs in Wien. Deshalb wurde im Dezember 1916 zunächst ein Provisorischer Staatsrat als Regierung gebildet. Dessen 25 Mitglieder stammten überwiegend aus den seit 1915 vom Deutschen Reich besetzten Teilen Kongreßpolens, zehn aus den polnischen Provinzen Österreich-Ungarns. Am 14. Januar 1917 fand die erste konstituierende Sitzung des Staatsrates statt. Präsident mit dem Titel „Kronmarschall“ wurde Waclaw Niemojowski, sein Stellvertreter Józef Mikolwski-Pomorski. Auch der spätere Gründer der Republik und als „Marschall“ zwischen 1926 bis 1935 quasi diktatorisch regierende Józef Pilsudski gehörte dem Staatsrat an. Obwohl viele Strukturen aus der Zeit des Regentschaftskönigreichs von der Zweiten Polnischen Republik nach 1918 aufgenommen wurden und mit  seiner Gründung im November 1916 erstmals nach 1831 in Warschau wieder polnische Fahnen wehten, spielt diese Episode in der Rezeption in Polen bis heute eine nachrangige Bedeutung.