© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/16 / 28. Oktober 2016

Mißtrauisch beäugte Markterklärer
Analysen eines Wirtschaftsjournalisten, ob die Kritik an der Volkswirtschaftslehre berechtigt ist
Erich Weede

Gleich am Anfang setzt sich der FAZ-Journalist Philip Plickert in seinem Werk über die „Volkswirtschaftslehre auf Sinnsuche“ mit dem Verlust des Ansehens dieser Disziplin in der Bevölkerung und mit der Kritik mancher Studenten an der Lehre des Faches auseinander. Er zitiert eine Umfrage, wonach achtzig Prozent der Deutschen meinen, die Gesellschaft könne gut ohne die Ökonomen auskommen. Häufige Vorwürfe der Kritiker sind Marktgläubigkeit, unrealistische Modellwelten, übertriebene Mathematisierung, ein vereinfachtes und damit falsches Menschenbild, Vernachlässigung der Dogmengeschichte, der Wirtschaftsgeschichte, der Wissenschaftstheorie. Plickert will zeigen, daß diese Vorwürfe mindestens stark übertrieben sind. 

Das Buch besteht aus sieben Teilen – 1. Die Ökonomen in der Krise, 2. Vom Wert der Vergangenheit, 3. Finanzkrise, 4. Eurokrise, 5. Mensch, Gesellschaft, Umwelt, 6. Politische Ökonomie, 7. Arm und Reich – und abschließenden Bemerkungen zur Bedrohung der Meinungsfreiheit.  

Schon im Vorwort skizziert Plickert kurz die wissenschaftstheoretischen Positionen von Karl Popper, Thomas S. Kuhn und Imre Lakatos. Dabei problematisiert er die Vorstellung, daß Falsifikation einfach und endgültig sei und schließt sich Lakatos an, der Forschungsprogrammen und Paradigmata Zeit zur Entfaltung lassen will. Das gilt gleichermaßen für die Neoklassik, den Keynesianismus und die Österreichische Schule, um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Ausführungen werden ergänzt durch mehrmalige Hinweise auf die Schwierigkeiten, in der empirischen Forschung robuste und replizierbare Ergebnisse zu finden. Der Vorwurf eines naiven Modellplatonismus und übermäßiger Abstraktion mag in Einzelfällen berechtigt sein, für das Fach im ganzen ist er zunehmend übertrieben. 

Das zeigt sich auch bei Plickerts Diskussion rationalen Verhaltens und der Verhaltensökonomik. Natürlich gibt es ökonomische Theorien, in denen der Versuch der Nutzenmaximierung oder des Eigennutzes überzeichnet wird, aber der Stand der Wissenschaft ist das nicht. Verhaltensökonomen haben gezeigt, daß Menschen nicht immer nur am Eigennutz orientiert handeln, sondern auch oft an Fairneßnormen orientiert sind, daß die Neigung zum Trittbrettfahren oft überschätzt wird, daß es durchaus freiwillige Beiträge zur Kollektivgutbeschaffung gibt, daß soziale Vergleichsprozesse die Folgen der Orientierung am eigenen Nutzen erheblich modifizieren. 

Zu Recht weist Plickert auch auf die Achillesferse der Verhaltensökonomik hin. Ein geschlossenes Menschenbild, auf dem man auch Makrotheorien aufbauen könnte, fehlt. Hier hätte Plickert wieder an die Einsicht mancher Wissenschaftstheoretiker erinnern können, daß Theorien nicht durch Falsifikation, sondern nur durch bessere Theorien überwunden werden.

Obwohl auch Wirtschaftshistoriker zunehmend mit ökonometrischen Methoden arbeiten, trifft der Vorwurf einer übermäßigen und nutzlosen Mathematisierung dieses Teilgebiet kaum. Plickert zeigt das vor allem bei seiner Besprechung von einigen Werken, die die Frage nach der Überwindung der Massenarmut in Europa oder dem Westen erforschen. Bei Eric Jones etwa spielt die Standortkonkurrenz im politisch fragmentierten Europa eine Rolle, bei Daron Acemoglu und James A. Robinson sind es sichere Eigentums- und Verfügungsrechte bzw. inklusive Institutionen, die möglichst vielen Menschen wirtschaftliche Freiheitsrechte einräumen. Der Vorwurf von abstrakten Modellwelten trifft hier nicht. 

Vorwurf an die VWL wegen ihrer Marktgläubigkeit

Der Dogmengeschichte hat Plickert kein eigenes Kapitel gewidmet. Aber auch hier wird der Leser fündig. Die Österreichische Schule wird dabei von Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek, von deren Kritik an der Planwirtschaft, repräsentiert. Mises hatte darauf hingewiesen, daß eine rationale Ressourcenallokation ohne Privateigentum an Produktionsmitteln nicht möglich sei, Hayek darauf, daß Wissen nicht zentralisierbar sei. Auch auf die österreichische Konjunkturtheorie, bei der monetäre Impulse erst den Boom und dann die Rezession auslösen, wird verwiesen. Natürlich auch auf John Maynard Keynes und seine ganz andere Erklärung von Rezessionen, nämlich durch Nachfragedefizite, die vom Staat zu korrigieren sind. Derartige Positionen sind offensichtlich relevant. Wir leiden nur an dem Problem, daß es Gewißheit über den Besitz der Wahrheit nicht geben kann. 

Ein beliebter Vorwurf an die VWL ist die Marktgläubigkeit. Nicht immer explizit, dafür aber immer wieder setzt sich Plickert mit diesem Vorwurf auseinander. Nach der österreichischen Konjunkturtheorie oder auch der Taylor-Regel zur Festsetzung des Leitzinses hatte die Finanzkrise viel mit der Setzung der Rahmenbedingungen durch den Staat, einschließlich der Zentralbanken, zu tun. Im „too big to fail“, der Subventionierung der größten oder systemrelevanten Banken durch eine implizite Staatsgarantie, kann man auch Staatsversagen sehen. Auch der Euro ist nicht vom Markt, sondern von Staaten eingeführt worden. Lange vor dessen Einführung hatte es Warnungen von Wilhelm Röpke und Hayek vor verfrühten und zentralistischen Integrationsmaßnahmen gegeben. Konkreter, aber immer noch rechtzeitig waren die Warnungen und Vorahnungen von Martin Feldstein. Nutzlos war der Rat nicht von der Sache her, sondern weil die Politik nicht hören wollte. 

Das Buch behandelt viel mehr Themen als eine Rezension aufgreifen kann. Es seien noch die Energie- und Klimapolitik, die skeptisch betrachtet wird, die relative Fähigkeit von Bürgern und Politikern im Umgang mit Geld, die Flüchtlingspolitik und die Folgen der digitalen Revolution für Arbeitsmärkte erwähnt. 

Für wen ist das Buch geeignet? In allererster Linie für mündige Bürger und junge Menschen, die vielleicht VWL studieren wollen und nicht schon viele Jahre lang die Wirtschaftsteile in Zeitungen verfolgen. Das Buch vermittelt eine Vielzahl von wirtschaftspolitischen Einsichten und Zugänge des Faches VWL. Für die im Untertitel angesprochenen Professoren ist das Buch vor allem an den Stellen interessant, wo es etwa Fragen der professionellen Ethik, Politische Korrektheit oder selten beachtete Randthemen, wie etwa genetische Variation und deren Effekte (unter der Überschrift „Mutter Afrikas zerstrittene Kinder“) behandelt. Weil das Buch weitgehend aus einer Folge von Kurzaufsätzen besteht, kann der schnelle Leser leicht entdecken, wo persönliche Wissenslücken zumindest andeutungsweise geschlossen werden können. 






Prof. Dr. Erich Weede lehrte Soziologie an den Universitäten Köln und Bonn. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft.

Philip Plickert: Die VWL auf Sinnsuche. Ein Buch für zweifelnde Studenten und kritische Professoren. FAZ Buch, Frankfurt/Main 2016, gebunden, 264 Seiten, 19,90 Euro