© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/16 / 28. Oktober 2016

Einseitiger Alarmismus
Die Beziehung zwischen Klimawandel, Meeresspiegelanstieg und Migration ist komplexer als gedacht
Christoph Keller

In den Weltuntergangsszenarien von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) oder Uno-Ablegern wie Weltbank, Unep oder UNHCR spielt der „Klimaflüchtling“ eine tragende Rolle. Am häufigsten wird dabei mit den Bewohnern tropischer Inselstaaten argumentiert, weil deren Atolle zuerst vom klimabedingten Anstieg des Meeresspiegels betroffen und sie deshalb zur Abwanderung gezwungen sein würden.

Aber gleich hinter dem Urlauberparadies Malediven und den Polynesiern rangiert mittlerweile die Küstenbevölkerung zwischen Bangladesch und Vietnam. Von bis zu 30 Millionen Menschen ist in einschlägigen Publikationen die Rede, die demnächst allein aus dem einstigen Ostpakistan aufbrechen, weil ihnen Meeresspiegelanstieg, Dürren, Überschwemmungen, mehr tropische Wirbelstürme, Hitzewellen und massive Erosion die Lebensgrundlagen zerstören.

Schreckliche Vereinfachungen

Das sind düstere Szenarien, die stets auch den globalen Norden mit der „Umweltschuld“ belasten, um mit moralischem Druck eine Willkommenskultur auch für „Klimaflüchtlinge“ zu generieren. Was von solchen grobkörnigen Zukunftsgemälden wissenschaftlich zu halten ist, haben zwei auf Umwelt- und Erdsystemforschung sowie auf Satellitengeodäsie und Meeresspiegelvariabilität spezialisierte Forscherteams des Geographischen Instituts der Uni Köln und des Instituts für Geodäsie und Geoinformation in Bonn am Beispiel der drei großen südostasiatischen Deltaregionen überprüft (Geographische Rundschau, 7-8/16).

Die Bonner Gruppe um Jürgen Kusche präsentiert zunächst die gesicherte Faktenbasis. Dazu zählt die Tatsache, daß die Küsten des Ganges-Brahmaputra-, des Irawadi- und des Mekong-Deltas schon heute die am stärksten vom Meeresspiegelanstieg betroffenen Regionen der Erde sind. Unstreitig sei ferner die Massenänderung der Ozeane, verursacht durch das Abschmelzen des Grönländischen und Westantarktischen Eisschildes und dem Rückgang der Gletscher, wobei der fünfte Bericht des Weltklimarats (IPCC) von 2013 die grönländische Schmelzrate viel zu niedrig angesetzt, die der Gletscher hingegen überschätzt habe. Was nichts daran ändert, daß der Meerspiegel vor asiatischen Deltaküsten seit Jahrzehnten ansteigt. 

In Bangladesch mit seinem maximal zwei Meter über dem Wasserspiegel des Golfs von Bengalen liegenden, 87.000 Quadratkilometer großen Ganges-Brahmaputra-Delta, der Lebensgrundlage für 200 Millionen Menschen, geht man bis 2050 von einem Plus bis zu 50 Zentimeter aus. Tritt dieser schlimmste Fall ein, wären die Auswirkungen für Ökologie und Ökonomie tatsächlich „dramatisch“. Unterstützt von der Weltbank, wappnet sich die Regierung in Dhaka darum dagegen, indem sie die hundert der Deltaküste vorgelagerten Polder befestigt. Von ähnlichen Anstrengungen aus dem vietnamesischen Mekong-Delta, 20.900 Quadratkilometer, die sogar durchweg unterhalb des Zwei-Meter-Niveaus liegen, und vom weniger gefährdeten Irawadi-Delta in Burma (50.000 Quadratkilometer, aber nur 1.100 unterhalb von zwei Metern), weiß Kusche über keine vergleichbaren Präventionsmaßnahmen zu berichten.

Aber selbst jene längerfristige Projektion, die in Bangladesch bereits das umweltpolitische Handeln diktiert, ist im Kontext der von Kusche aufgeworfenen „Grundsatzfragen“ zum Thema Klimawandel und Meeresspiegelanstieg mit vielen Fragezeichen zu versehen. Denn mit den schrecklichen Vereinfachungen von UN und NGOs, die Dhakas Ökopolitik zu bestätigen scheint, ist es hier nicht getan. Vor allem nicht mit primitiver Monokausalität.

Deswegen läßt sich der Meeresspiegelanstieg auch nicht auf globale Effekte reduzieren, für die die Industrie- und Konsumgesellschaften verantwortlich zu machen wären. Zum Anstieg der Ozeane komme es vielmehr nur infolge eines breiten Spektrums lokaler, regionaler und globaler Effekte. Die wiederum resultieren aus einer Reihe physikalischer Faktoren wie der erwähnten Massenänderung durch Pol- und Gletscherschmelze, aus Veränderungen des Wasservolumens des Salzgehalts, Verlagerungen von Strömungssystemen, globalen Fernwirkungen wie den Extremwetterphänomenen El Niño/La Niña oder aus natürlichen und anthropogenen Prozessen, die zum Absinken des Festlandes führen, wie Grundwasserentnahmen oder Ausbeutung von Gas- und Ölvorkommen.

Unseriöse deterministische Ursache-Wirkungs-Thesen

Aus diesem Bündel von Meeresspiegeleffekten muß die Klimaforschung statistisch signifikante Aussagen gewinnen, um zu Modellbildungen zu gelangen, die langfristige Prognosen zum Anstieg der Ozeane ermöglichen. Was gerade für Südostasien schwierig ist. Für die Deltas liegen keine systematischen Messungen vor. Unterhalt, Erneuerung und regelmäßige Ablesung von Pegeln sowie automatisierte Datenübertragung und die Erfassung meteorologischer Parameter fehlen oft. Zudem würden die Pegel durch Überschwemmungen zerstört und Meßreihen unterbrochen. 

Außerdem würden die Pegel meist in Häfen und an Schiffahrtswegen gemessen, wo sie morphologischen Veränderungen ausgesetzt seien, die nicht die gesamte Küstenlinie charakterisieren. Seit Mitte der 1990er können zwar Satelliten diese Defizite kompensieren, doch nicht im Küstenbereich, wo Reflexionen von Landflächen die Meßgenauigkeit beeinträchtigen. Präzisere Messungen seien mit neuen Systemen erst in einigen Jahren zu erwarten. Methodisch auf wackligen Beinen stehe auch die Satellitenmessung der Wassertemperatur. Daten gebe es lediglich für die obersten Zentimeter der Wassersäule. Die Tiefe bis 2.000 Meter erkunden seit 2006 3000 autonome Argo-Bojen, die Strömungen folgen, so daß weite Meßlücken entstanden sind. Und Meerestiefen jenseits von 2.000 Meter gelten ohnehin als „weitgehend unvermessen“, so daß man über Einflüsse der Tiefsee auf die globale Erwärmung nur spekulieren könne. Wenn der IPCC-Bericht 2013 einen mittleren Meeresspiegelanstieg um 30 bis 100 Zentimeter bis 2100 vorhersagt und räumliche Variationen für Südostasien sogar von höheren Anstiegen ausgehen, müsse man angesichts des Forschungsstandes kritisch auf „beträchtliche Unsicherheiten“ hinweisen. Regionale Projektionen wie für Bangladesch „sind daher unsicher“.

Ein Urteil, das Boris Braun und sein Kölner Team bezüglich der angeblichen „Klimaflüchtlinge“ in spe aus dieser Region nur unterschreiben können. Wie bei der Beziehung zwischen Erderwärmung und Meeresanstieg ist der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Migration „wesentlich komplexer“ als „vorschnelle, wissenschaftlich wenig seriöse, deterministische Ursache-Wirkungs-Thesen suggerieren“.

Bisher jedenfalls lassen sich in Bangladesch nur Binnenwanderungen von der Küste fort registrieren, und es sind nicht akute oder drohende Umweltveränderungen, die sie auslösen, sondern ökonomische Motive. Die arme Landbevölkerung verharre trotz sich häufender Naturkatastrophen in der Region, während die besser Ausgebildeten in die Städte abwanderten, aber nicht flüchteten. 

Geographisches Institut der Universität Köln: www.geographie.uni-koeln.de

Institut für Geodäsie und Geoinformation: www.igg.uni-bonn.de