© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/16 / 04. November 2016

Amerika tanzt Swing
Sex-Video hier, E-Mail-Affäre da: Trump hat wieder aufgeholt
Thorsten Brückner

Unter einer „October Surprise“ versteht man im politischen Amerika eine Nachricht, die kurz vor dem Wahltag die Dynamik eines Wahlkampfs fundamental verändert. So verriet der prominente Strafverteidiger Thomas Connolly kurz vor dem 7. November 2000 einem Reporter, daß George W. Bush 1976 wegen einer Trunkenheitsfahrt im Ostküstenstaat Maine kurzzeitig inhaftiert worden war. Der republikanische Präsidentschaftskandidat zog dennoch ins Weiße Haus ein – allerdings äußerst knapp: Al Gore verbuchte US-weit die meisten Stimmen, aber im Wahlmännergremium, das nach den Mehrheiten in den einzelnen Bundesstaaten bestimmt wird, hatte Bush die Nase dennoch knapp vorn.

Der Wahlkampf 2016 hielt gleich zwei Oktober-Überraschungen bereit. Während es schon aussah, als sollte ein elf Jahre altes Video, auf dem Trump sich in sexuell anzüglicher Weise über Frauen äußerte, dem New Yorker Unternehmer das Genick brechen, sorgt nun seine Widersacherin Hillary Clinton für Negativschlagzeilen. Nachdem im Juli FBI-Chef James Comey das Verfahren gegen die Ex-Außenministerin wegen sicherheitsrelevanter E-Mails, die sie auf einem privaten Server gespeichert hatte, einstellte, erklärte er nun elf Tage vor der Wahl, daß gegen Clinton wieder ermittelt werde.

Während sich Comey damals von Republikanern wüste Anschuldigungen gefallen lassen mußte, er habe das Verfahren gegen Clinton unter politischem Druck eingestellt, spucken dieses Mal die Demokraten Gift und Galle. Einwände von Justizministerin Loretta Lynch, die im Juli bei der Einstellung der Ermittlungen noch eine unrühmliche Rolle gespielt hatte, ignorierte Comey dieses Mal. In einem Brief an die Kongreßabgeordneten teilte er seinen Schritt mit. Einer von ihnen, Senator Harry Reid, schimpfte, Comey habe mit den Ermittlungen den Hatch-Act von 1939 verletzt, der es Bundesbediensteten verbietet, in Wahlkämpfe einzugreifen.

Kritik an Comey kam aber auch aus dem Trump-Lager. Dessen Unterstützerin, Fox-News-Rechtsexpertin Jeanine Pirro, beklagte, Comeys Entscheidung so kurz vor der Wahl verletze die fundamentalsten Regeln von Fairneß und Unparteilichkeit. Zu den neuen Informationen über Clintons E-Mails kam Comey offenbar wie die Jungfrau zum Kinde. Ausgangspunkt waren FBI-Ermittlungen gegen den Ex-Kongreßabgeordneten Anthony Weiner, zu dessen Leidenschaften es gehört, minderjährigen Mädchen anzügliche Selfies zu schicken. Seine aus einer muslimischen Familie stammende Frau Huma Abedin ist eine der engsten Beraterinnen von Clinton.

Zwei Drittel halten Hillary Clinton für unglaubwürdig

Auf dem Rechner des 52jährigen Weiner fand das FBI neben schlüpfrigen Bildern offenbar auch Tausende E-Mails, die im Rahmen des E-Mail-Skandals rechtliche Relevanz besitzen. Clinton hatte damals rund 33.000 E-Mails gelöscht, anstatt sie dem FBI zu übergeben. Ihre ohnehin völlig ramponierte Glaubwürdigkeit bekommt mit den erneuten Ermittlungen weitere Kratzer. 67 Prozent derjenigen, die fest vorhaben, wählen zu gehen, halten Clinton laut einer Fox-News-Umfrage für unglaubwürdig. 62 Prozent mißtrauen Trump. Selbst engste Weggefährten distanzieren sich. Demokraten-Stratege Doug Schoen, 1996 wichtiges Glied in Bill Clintons Wiederwahlteam und 2008 Berater von Hillary während ihres erfolglosen Vorwahlkampfes gegen Obama, erklärte, er befürchte eine Verfassungskrise, sollte Clinton gewählt werden. Er müsse seine Unterstützung daher neu überdenken.

Für Clinton könnten die neuesten Enthüllungen in zweierlei Hinsicht negative Folgen haben. Einmal könnte es den Enthusiasmus von Demokraten, zur Wahl zu gehen, weiter bremsen. Dabei ist Clinton gerade in Staaten wie Pennsylvania und Florida auf eine hohe Wahlbeteiligung angewiesen. Schon vor Comeys Ankündigung führte Trump in der Rubrik „starke Unterstützung“ gegenüber Clinton mit 68 zu 61 Prozent.

Clintons zweites Problem könnte werden, daß sich immer mehr Unabhängige von ihr abwenden. Derzeit führt Trump in dieser Gruppe mit 41 zu 28 Prozent – ein Vorsprung also von 13 Prozentpunkten. Zum Vergleich: Mitt Romney behielt unter den Unabhängigen 2012 nur mit fünf Prozentpunkten Vorsprung die Oberhand vor Barack Obama. In derselben Umfrage vor zwei Wochen erreichte Clinton noch 35 Prozent.

Alle Umfragen deuten mittlerweile auf ein knapperes Rennen hin, als dies noch vor ein paar Wochen absehbar war. Dafür sind auch inhaltliche Gründe mit­entscheidend. Wegen „Obamacare“ werden die Krankenversicherungsprämien der Amerikaner im kommenden Jahr um durchschnittlich 25 Prozent steigen. Nicht gerade das, was sich die Nation unter einem „Affordable Care Act“ (Gesetz für bezahlbare Gesundheitsversorgung) versprochen hat. Für Trump ein weiteres Oktober-Geschenk, pries seine Widersacherin „Obamacare“ während des Wahlkampfs doch stets als eine der größten Errungenschaften der scheidenden Regierung.

Unter anderem deswegen wechselte das Momentum bereits vor dem neuerlichen E-Mail-Skandal zurück zu Trump. Lag er noch vor zwei Wochen in einigen landesweiten Umfragen zweistellig zurück, ist Clintons Vorsprung je nach Umfrage nun auf ein bis vier Prozentpunkte zusammengeschmolzen. Ein statistischer Gleichstand angesichts der Tatsache, daß in diesem Jahr ungewöhnlich starke Drittparteienbewerber kandidieren und es ohnehin auf die Ergebnisse in den einzelnen Staaten ankommt.

Scheitert Trump an seiner knappen Wahlkampfkasse?

Auch dort holt Trump auf: Die jüngsten Umfragen vom Beginn der Woche sehen ihn in Pennsylvania nur noch zwei Prozentpunkte hinter Clinton. In North Carolina und Nevada hat er sich demnach die Führung zurückerobert. Sorgen muß sich Trump, dessen Strategie, knapp über 270 Wahlmänner zu kommen, wenig Spielraum für Fehlschläge am Wahlabend läßt, weiterhin um Utah. Dort hat sich die einflußreiche „Kirche der Heiligen der Letzten Tage“ öffentlich gegen ihn gestellt. Wie Phönix aus der Asche ist in dem Staat am Salzsee, den Romney 2012 mit 72 Prozent gewinnen konnte, in Umfragen der Mormone und ehemalige CIA-Mitarbeiter Evan McMullin an die Spitze geschossen.

Mit dem aus Utah stammenden 40jährigen Neokonservativen könnte zum erstenmal seit 1968 wieder ein Drittparteienkandidat einen Bundesstaat gewinnen. Trumps größtes Problem bleiben auch in der letzten Wahlkampfwoche die Finanzen. Mitte Oktober wies Clintons Wahlkampfkasse 62 Millionen Dollar auf, Trumps gerade einmal 16 Millionen. Daß Anfang des Monats wohl nicht mal Trump selbst noch an seinen Sieg glaubte, belegt eine weitere Zahl. Von Anfang Oktober bis zur Monatsmitte spendete er seiner Wahlkampagne aus seinem Privatvermögen nur 31.000 Dollar.