© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/16 / 04. November 2016

Wie die EZB Wohlstandsdiebstahl betreibt
Negativzins bei Unternehmensanleihen: Verkehrte Welt – oder wie die derzeitige Euro-Geldpolitik eine Volkswirtschaft zugrunde richtet
Dirk Meyer

Money for nothing – der Zins­entscheid der Europäischen Zentralbank (EZB) vom März 2016 wirkt nach: Ein Leitzins von null Prozent bietet den Banken kostenloses Geld für die Kreditvergabe. Bei einem Anstieg der Bilanzsumme von 2,2 auf 3,4 Billionen Euro seit Beginn des Anleihekaufprogramms im März 2015 hat es bislang ein Volumen von 1.233 Milliarden Euro erreicht. Neuerdings darf die EZB neben Staatsanleihen (Stand September: eine Billion Euro), Pfandbriefen (191 Milliarden Euro), ABS-Verbriefungen (20 Milliarden Euro) außerdem auch „gute“ Unternehmensanleihen (20 Milliarden Euro) ankaufen.

Zusätzliches Marktsegment von 800 Milliarden Euro

Da das Inflationsziel von knapp zwei Prozent mittelfristig unerreichbar sein wird, steht das Handeln der EZB unter einem Glaubwürdigkeitsverlust. Mit dem Null-Leitzins ist die Untergrenze erreicht. Der Strafzins von minus 0,4 Prozent für Einlagen bei der EZB dürfte die Kosten der Bargeldhaltung bei Banken und Privatkunden für Safe und Versicherung erreicht haben, so daß auch hier eine Steigerung ohne Ausweichreaktion kaum mehr denkbar ist.

Damit scheint das Ende der Möglichkeiten der besonderen geldpolitischen Maßnahmen erreicht zu sein. Auch hat die EZB zunehmend Probleme, geeignete Wertpapiere für ihr Programm zu bekommen. Von den sechs Billionen Euro Staatsanleihen des Euroraumes haben 4,26 Billionen Euro eine negative Rendite. Welche Stellschrauben bleiben noch? Wohl eher als Verzweiflungstat hat der EZB-Rat mit Wirkung vom 7. Juni beschlossen, als weitere Wertpapierklasse Unternehmensanleihen anzukaufen.

Damit erschließt die EZB ein zusätzliches Marktsegment von etwa 800 Milliarden Euro. Die Markterwartungen liegen bei monatlichen Kaufvolumina zwischen drei und zehn Milliarden Euro. Ähnlich wie in anderen Marktsegmenten hat die EZB die Anleihepreise hier nach oben getrieben. Sodann haben insbesondere Großunternehmen die Gelegenheit genutzt, um vermehrt Neuemissionen einzuführen. Innerhalb der ersten fünf Wochen wurden 458 Anleihen von 175 Firmen mit einem Volumen von 10,4 Milliarden Euro angekauft. Davon waren drei Milliarden Euro Anleihen französischer Unternehmen (Renault und andere) und 2,6 Milliarden Euro Anleihen deutscher Unternehmen (Allianz, Bayer, BASF, VW, Siemens und Linde). Jede achte Unternehmensanleihe – im Gesamtumfang von zwei Milliarden Euro von zumeist staatsnahen Unternehmen wie Deutsche Bahn oder Deutsche Post – hatte eine negative Rendite.

Bei einem Ankauf zu Kursen über 100 Prozent des Nominalwertes fährt die EZB bei der Tilgung Verluste ein. Im September gelang erstmals zwei reinen Privatunternehmen eine Neuemission mit Negativzins. Die Henkel AG begab eine zweijährige Anleihe im Umfang von 500 Millionen Euro mit einer Emissionsrendite von minus 0,05 Prozent. Der französische Pharmakonzern Sanofi konnte mit einer dreijährigen Anleihe ebenfalls minus 0,05 Prozent erzielen. Zu welchen Konsequenzen führt diese – scheinbar relativ bedeutungslose – Ausweitung des Ankaufprogramms?

Die Kreditnachfrage für Investitionen wird über die Rentabilität der Projekte – die sogenannte Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals – gesteuert. Demnach würde ein Investor jede Realinvestition vornehmen, bei der die Rentabilität des Kapitals größer ist als der Kreditzins. Dies erklärt die negative Zinsabhängigkeit der Investitionsnachfrage sowohl einzel- wie auch gesamtwirtschaftlich. Der erzielte Überschuß ist einzel- wie auch volkswirtschaftlich ein Indiz für den Wohlstandsgewinn: zusätzliches Einkommen, welches das Bruttoinlandsprodukt (BIP) steigert.

Massive Fehlbewertungen großer Vermögenswerte

Eine Besonderheit liegt in dem außergewöhnlichen Fall negativer Kapitalmarktzinsen vor. Sollte das Unternehmen die Möglichkeit haben, die Investition voll mit Fremdkapital finanzieren zu können, so wäre das Vorhaben zwar betriebswirtschaftlich lohnend. Obwohl die Investition zu Verlusten führt, können diese durch den niedrigeren Tilgungsbetrag überkompensiert werden. Volkswirtschaftlich gesehen findet jedoch eine Einkommens-/Kapitalvernichtung statt, da der reale Ressourceneinsatz durch die Wertschöpfung nicht verdient wird. Das BIP sinkt. Anders formuliert: Die EZB betreibt durch ihre Politik Wohlstandsvernichtung.

Die EZB wird durch die Ankäufe zu einem marktmächtigen, zinsbeeinflussenden oder gar zinssetzenden Akteur. Gegenüber dem Markt für Staatsanleihen der Euroländer ist die Marktbeeinflussung durch den Ankauf von Firmenanleihen wesentlich spürbarer, da sie bis zu 70 Prozent einer Emission aufkaufen kann und die Marktenge hier insgesamt wesentlich ausgeprägter ist. Bereits mit der Ankündigung der Ankäufe sanken die Renditen für Unternehmensanleihen von März bis Juni 2016 im Durchschnitt um 0,32 Prozentpunkte, ohne daß in diesem Zeitraum Käufe getätigt wurden.

Die Marktenge verstärkt die Kurs­ausschläge. Der Liquiditätsengpaß verdrängt außerdem Versicherer und Pensionsfonds als traditionelle Käufer und deren Marktbewertung. Für sie bleiben schlechtere Bonitätsklassen als BBB (Investmentgrad), die als Ankäufe für die EZB nicht in Frage kommen. Im Ergebnis wird die Marktkontrolle außer Kraft gesetzt und durch die zentralwirtschaftlichen Entscheidungen des EZB-Rates ersetzt.

Steigen die Refinanzierungskosten infolge einer Umkehr der Geldpolitik, könnten die Geldinstitute von zwei Seiten her in Schwierigkeiten geraten: Zum einen müssen sie sich bei gleichen Anlageerträgen teurer refinanzieren; zum anderen kann es bei den Kreditnehmern zu Ausfällen kommen, soweit sie teurere Anschlußfinanzierungen mit ihren niedrig kalkulierten internen Investitionsrenditen nicht mehr bedienen können.

Schließlich könnten die Hypothekenkredite für „Betongold“ zu einem Problem werden, wenn die Immobilienpreise wieder sinken und Privatkunden Laufzeiten kürzer als den Tilgungszeitraum gewählt haben. Es drohen massive Fehlbewertungen finanzieller Vermögenswerte („Vermögensblasen“), die bei einer Rückkehr der Geldpolitik auf Normalmaß einer Korrektur unterliegen und erhebliche Risiken für die Realwirtschaft bergen.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ordnungsökonomik an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.