© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/16 / 04. November 2016

Den Menschen neu definieren
Transhumanismus: Die Verschmelzung von Menschen und Technologie ist längst Alltag
Marc Zoellner

Es gibt wohl keine Menschenmenge, in welcher Neil Harbisson untertauchen könnte, ohne gleich wieder aufzufallen. Denn Harbisson ist anders – anders als jede andere Person auf dieser Welt. Daß er hervorsticht, liegt nicht nur an seinem schrägen Äußeren: der grellblonden Pilzkopffrisur in Beatlesmanier der sechziger Jahre, der papageienbunten, an die Discojahre der wilden Siebziger erinnernden Kleidung, der im krassen Kontrast hierzu stets konservativ gebundenen Fliege oder Krawatte. Was Harbisson am deutlichsten von seinen Mitmenschen differenziert, ist ein dreißig Zentimeter langes Körperteil, das aus seinem Hinterkopf ragt und ihm über dem Gesicht baumelt: Seine Antenne ist Neil Harbissons ganzer Stolz.

„Meine Antenne ist ein Körperteil“

Harbisson ist ein Mensch, ganz ohne Zweifel. Er hat zwei Arme, zwei Beine, zehn Finger, Rumpf, Kopf – und eben eine Antenne. Eine, die vom Staate Großbritannien, einem jahrelangen Rechtsstreit folgend, tatsächlich als Körperteil anerkannt worden war und seitdem auf biometrischen Fotos aufgenommen werden darf. Eine, die permanent an Harbisson gebunden ist und sich nicht mehr entfernen läßt; weder beim Schlafen noch beim Duschen, noch beim Promenadengang durch die Innenstadt. Eine, die die Blicke seiner Mitmenschen auf ihn lenkt wie das Licht die Nachtfalter. Eine, die nicht nur ästhetisch, weil wohlgeformt, ausschaut, sondern darüber hinaus noch einen ganz praktischen Nutzen besitzt. Für Neil Harbisson wäre das Leben ohne Antenne mittlerweile undenkbar.

Die Geschichte von Harbissons Antenne reicht zurück bis zum Oktober des Jahres 2003. Wie viele andere Prothesen, so sollte auch der Eyeborg, so der Name dieser Erfindung, einen körperlichen Makel überwinden, unter welchem der Brite bereits sein ganzes Leben lang zu leiden hatte. Denn Harbisson wurde mit einer sehr seltenen Sehstörung geboren: Er kann nur Schwarz-Weiß-Schattierungen wahrnehmen, jedoch keine Farben. Achromatopsie nennen Mediziner diese Erbkrankheit. In Deutschland leben rund 3.000 Menschen mit dieser Behinderung; weltweit ist nur einer von über 30.000 Menschen von Achromatopsie betroffen. Harbisson selbst zählt nicht mehr zu ihnen. Seit dreizehn Jahren ermöglicht sein Eyeborg ihm, Farben selbst jenseits des üblichen Spektrums zu erkennen. Und dies auf die wohl denkbar unkonventionellste Art.

„Meine Antenne ist ein Körperteil, welches mir erlaubt, Farben zu hören“, erklärt Harbisson in der „Hearing Colours“ benannten Dokumentation des New Yorker Regisseurs Greg Brunkalla über den Eyeborg. „Sie besitzt einen Farbsensor, welcher die Lichtfrequenzen vor mir aufnimmt und sie an einen Chip in meinem Hinterkopf sendet. Der Chip übersetzt dann die Farben in Schallwellen. So höre ich Farben durch meine Schädelknochenverbindung.“

Der Erfindung des Eyeborg ging ein glücklicher Zufall voraus. Während seines Studiums an der Kunsthochschule von Dartington besuchte Harbisson einen Vortrag des Technikstudenten Adam Montandon von der Plymouther Universität über Grenzen und Möglichkeiten der noch jungen Wissenschaft der Kybernetik. Beide kamen in Kontakt und entwickelten gemeinsam in nur wenigen Monaten den ersten, damals noch über fünf Kilogramm wiegenden Prototypen von Harbissons neuem Farbsensor. Nach einer kurzen, überaus positiv aufgenommenen Experimentalzeit fiel für Harbisson der Entschluß, die Antenne permanent in sein Biosystem zu integrieren. Mit beeindruckender Potentialerkennung: Mußte der Brite sich anfänglich noch alle vier bis fünf Tage an die Steckdose hängen, wird der Eyeborg mittlerweile durch den Eigenstrom des Körpers betrieben.

„Die Leute sagen, daß Städte grau sind“, bestaunt der Komponist seine neu gewonnenen Sinneseindrücke, „und das läßt mich begreifen, daß die Leute farbenblind sind. Die Städte sind nicht grau; es gibt kein Grau in Städten.“

Es ist ein noch relativ junger Traum des Menschengeschlechts: den menschlichen Körper mittels Bio- und Elektrotechnik zu verbessern, seine Schwächen durch Mikrochips und mechanische Implantate zu überwinden, sich selbst dank eigener Schöpfungskraft evolutionär aufzuwerten. Der Schriftsteller Sergej Snegow war einer der ersten Visionäre, die sich ausgiebig mit der Problematik von Mensch-Maschine-Verknüpfungen beschäftigten. „Lebewesen der ersten Klasse passen sich in langwierigen Evolutionsprozessen an ihre Umgebung an; Lebewesen der zweiten Klasse passen die Umgebung an ihre Bedürfnisse an; und Lebewesen der dritten Klasse verändern sich selbst, wenn sie ihre Umgebung nicht verändern können oder wollen“, resümierte der russische Science-fiction-Autor Anfang der 1960er Jahre in seinem vielbeachteten Monumentalepos „Menschen wie Götter“. „Zur ersten Klasse gehören alle Tiere. Die Menschen gehören zur zweiten Klasse: Sie sind in der Lage, ihre Umwelt nach ihren Bedürfnissen zu gestalten. Doch damit sind die Möglichkeiten von uns Menschen erschöpft. [...] Aber unsere Nachkommen werden bald nach Belieben ihre Gestalt ändern.“

Was vor zwei Generationen noch wie pure Utopie klang – daß menschliche Körper in nutzbringender Symbiose mit Maschinen existieren, sich von Maschinen ergänzen und sogar antreiben lassen – ist heute bereits in vielen Bereichen der prothetischen Medizin simpler Alltag. Allein an Herzschrittmachern zählt das deutsche Stammregister bundesweit beinahe 80.000 derzeit implantierte Geräte. 

Furcht vor der Ungleichheit der Menschen 

Geh- und Laufprothesen ersetzen nicht mehr nur fehlende Gliedmaßen von Patienten. Sie sichern Sportstars wie dem Südafrikaner Oscar Pistorius und dem deutschen Weitspringer Markus Rehm überdies auch signifikante Vorteile gegenüber ihren nichtbehinderten Kontrahenten, wie zuletzt der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) im Juli 2014 konstatierte, als er Rehm von den anstehenden Europameisterschaften ausschloß.

Transhumanismus nennt sich die Philosophie hinter der Idee, den Menschen mittels eingebauter Technik zu verbessern.

 Auf positive Resonanz trifft diese Lehre besonders in den Vereinigten Staaten. Bücher zum Thema finden dort reißenden Absatz und dominierten nicht selten die Bestsellerlisten im Sachbuchbereich. Selbst eine eigene Partei haben die Transhumanisten in den USA auf die Beine gestellt – und mit dem Journalisten und Science-fiction-Buchautoren Zoltan Istvan sogar ihren eigenen, wenn auch aussichtslosen Kandidaten zur Präsidentschaftswahl im November dieses Jahres nominiert.

Unumstritten ist die postmoderne Bewegung in den USA dabei keineswegs, wie eine jüngst veröffentlichte Studie des Pew Research Center ergab: So erklärten 69 Prozent der befragten US-Amerikaner ihre Vorbehalte gegenüber der Einpflanzung von Mikrochips in menschliche Gehirne, um deren Leistungen zu steigern. Auch synthetisches Blut mit vitalisierender Wirkung stieß bei 63 Prozent der Teilnehmer auf generelle Ablehnung. Die Furcht vor der künftigen Ungleichheit unter den Menschen ist, so die Studie, hierbei ein herausragendes Motiv bei der Zurückweisung transhumanistischer Vorstellungen von der künstlichen Veränderung menschlicher Körper und insbesondere jene, daß selbige Technologien lediglich wohlhabenden Bürgern zuteil kommen würden.

Daß Transhumanismus nicht unbedingt ein Spielfeld für Reiche und Exzentriker bleiben muß, beweist hingegen die Cyborg Foundation. Von Neil Harbisson und seiner Kollegin, der katalanischen Tänzerin Moon Ribas, 2010 ins Leben gerufen, akquiriert die Non-Profit-Organisation mit Sitz in New York Spendengelder, um Eyeborg-Modelle – also jene Antennen, welche auch Harbisson sich hat implantieren lassen – unter anderem an Blindenverbände in Tibet, Equador und Brasilien kostenfrei zu liefern.

„Gestalte deine Evolution selbst“

Was Harbisson treibt, ist mehr als Kunst oder auch nur bloße Lebensphilosophie. Es ist ein Akt, den Menschen neu zu definieren, die Grenzen des Menschlichseins zu erweitern, ihm neue, künstliche Sinne zu schaffen und somit auch seine bewußten wie intuitiven Eindrücke von der Welt zu verändern. 

Harbissons Eyeborg, der Farben in Noten übersetzt und visuelle Eindrücke, sei es ein fremdes Gesicht, ein Strandspaziergang oder ein Bild von Picasso, als unverwechselbare Melodie im Gedächtnis abspeichert, ist eines dieser künstlichen neuen Sinnesorgane. Ebenso wie die Ellenbogenimplantate von Ribas, welche wie das Warnsystem mancher Tiere auf Erschütterungen und leichteste Erdbeben reagieren. Die Grenzen der Möglichkeiten setzt hierbei allein das menschliche Vorstellungsvermögen.

„Ein künstlicher Sinn verändert nicht deinen Körper“, wirbt somit auch das Cyborg Nest, das jüngste Startup der beiden Entrepreneure, für seine technischen Spielereien. „Es verändert deinen Geist.“ Für 350 US-Dollar, umgerechnet rund 320 Euro, können Interessenten auf dessen Onlineplattform den sogenannten North Sense (Nord-Sinn) erwerben; einen rund sechs Quadratzentimeter kleinen Sensor, welcher dem Körper dauerhaft den magnetischen Nordpol der Erde ins Bewußtsein ruft. Zweck dieser Apparatur, so die Designer, ist es, der Erinnerung des Menschen eine neue Variable beizusteuern. Der Träger dieses Sensors säße dann nicht mehr nur auf der Bank und schaute in den Garten – er säße auf der Bank und schaute nach Südosten in den Garten. „Design your evolution“, lautet treffend der Slogan des Cyborg Nests. „Gestalte deine Evolution.“

Vor dem Vorwurf frankensteinesker Dystopien verwahrt sich Harbisson dabei allerdings vehement. „Technologie ist menschengemacht“, verteidigt der Künstler sein Anliegen, andere Menschen mit künstlichen Sinnen auszustatten. „Wenn wir unseren Körper mit menschlichen Schöpfungen abändern, werden wir dadurch sogar noch menschlicher.“

Und doch: Als allzu hergebracht menschlich mag auch Harbisson sich mit seiner Antenne nicht mehr definieren. Sein Selbstverständnis, so der Brite, habe sich dank des Eyeborgs grundlegend gewandelt – hin zu einer neuen, einer evolutionär fortschrittlicheren Spezies. „Ich bin ein Cyborg“, erklärt Harbisson stolz. „Der Begriff Cyborg kommt von der Verbindung der Worte Kybernetik und Organismus. Und genau so fühle ich mich.“





Cyborgs e.V 

Cyborgs e.V., die Gesellschaft zur Förderung und kritischen Begleitung der Verschmelzung von Mensch und Technik, wurde 2013 in Berlin gegründet. Ziele des Vereins ist nicht nur die Dokumentation der „Funktionsweise, Software, Nebenwirkungen und Gefahren durch Implantate“ oder die Forschung bezüglich kreativer neuer Anwendungen auf Basis bestehender Hardware. Dem Verein geht es unter anderem auch darum, Cyborg-Rechte zu formulieren und für sie einzutreten. Neben der Lobbyarbeit will der Verein die Verwendung von Implantaten kritisch begleiten. Vor diesem Hintergrund sucht Cyborgs e.V. Gleichgesinnte. Nicht nur Menschen, die sich als Cyborg fühlen, sondern auch Forscher, Studenten und Mitarbeiter in Laboren rund um die Themen Medizintechnik, User-Interface-Design, Bionik und Robotik. 

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