© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/16 / 04. November 2016

Falschmünzer am Werk
Von der revolutionären Theorie zur staatlichen Praxis: Wie die „repressive Toleranz“ der bundesdeutschen Altlinken zur neuen Bürgerlichkeit umgedeutet wird
Thorsten Hinz

Der Suizid eines somalischen Asylanten im thüringischen Schmölln ist ohne die verbale Beihilfe der Zuschauer erfolgt. Der Nichtskandal genügte den postfaktischen Medien, um an die innere Ostfront auszurücken wider die dunkeldeutschen Rotten, welche die Neusiedler aus der Dritten Welt nicht einmal „geschenkt“ (Katrin Göring-Eckardt) haben wollen. Entgegen dem Anschein handelt sich dabei um keinen Ost-West-Konflikt, sondern um ein Ideologieproblem der alten Bundesrepublik, das nun als Fluch des Pharao die Atmosphäre gesamtdeutsch vergiftet, die Hirne vernebelt und zu Realitätsverlusten, Abspaltungen und Projektionen führt.

Werfen wir einen Blick in die Aufsätze und Kommentare, die der Journalist Thomas Schmid von September 2015 bis Oktober 2016 zum Thema Migration und östliche Bundesländer verfaßt hat. Denn Schmid strebt über die Polemik hinaus nach gesellschaftspolitischen Analysen. Der Alt-68er hat eine so erstaunliche wie interessante Karriere absolviert. Er war studentischer Revolutionär, Fabrikarbeiter, Verlagslektor, Mitarbeiter im Multikulti-Dezernat in Frankfurt, schließlich Chefredakteur der Springer-Zeitung Die Welt und entwickelte sich unterdessen zu einem Liberalen, der über die im sogenannten hellen Deutschland seltene Fähigkeit verfügte, konträren Positionen mit Achtung zu begegnen.

Um so mehr verblüfft jetzt die grelle Wortwahl: Sachsen sei „das dunkelste Bundesland im ohnehin dunklen Teil Deutschlands“, wo die „Ausländer- und Institutionenfeindlichkeit offen spazieren“ gehe – gemeint ist Pegida – und die „Lust an der grölenden Grenzüberschreitung“ sich in „Pöbelexzessen“ auslebe. So 2015 in Heidenau, wo die Kanzlerin mit dem Ruf „Wir sind das Volk, wir sind das Pack“ empfangen wurde, und zuletzt am 3. Oktober in Dresden. Ursache sei die fehlende „Bürgerlichkeit“ im Osten. Der Topos „bürgerlich“ ist ein Leitmotiv Schmids.

Darunter versteht er einen verinnerlichten Regelkanon, der den Respekt vor dem Anderen und vor den Institutionen, das Maßhalten, die Selbstkontrolle, die Herrschaft des Rechts umfaßt. Das alles hätte sich in der DDR aufgrund fehlender Öffentlichkeit nicht herausbilden können. Stattdessen sei ein „Gemütlichkeitskollektiv“ entstanden, das sich bis heute gegen den „Einbruch der Moderne“ – der Migranten – stemme. Damit nicht genug, sei durch die AfD die Gefahr gegeben, daß dieses Reaktionsmuster sich über ganz Deutschland ausbreite: „Es geht um nichts Geringeres als einen Wertewandel. Um die Entbürgerlichung des Bürgertums. Um die Entstehung eines neuen Subjekts.“

Nun ist der Verlust der Bürgerlichkeit in der DDR eine soziologische Banalität. Ihr genuiner Träger, das Bürgertum eben, wanderte größtenteils in den Westen ab. Doch war der Verlust nicht hundertprozentig, woran Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“, der in der Dresdner Villengegend auf dem Weißen Hirsch spielt, nachdrücklich erinnerte.

Auch Schmid räumt ein, daß sich in der sächsischen Metropole ein Milieu erhielt, das „seine bürgerlichen Formen bewahrt“ hat. Ratlos steht er vor der Tatsache, daß ausgerechnet diese Menschen heute „recht schnell bereit (sind), sie fahrenzulassen“.

Ein Grund für die Ratlosigkeit ist der verklärte Blick auf die eigene politische Generation, die er zum Hüter der Bürgerlichkeit erhebt. Und zwar einer Bürgerlichkeit, die sich in der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem NS-Erbe herausgebildet habe. Am Anfang stand die Erkenntnis, daß die Großeltern und Eltern „zumeist mitgelaufen“ waren. „Das betraf uns.“ Den Menschen in der DDR dagegen sei staatlicherseits die Absolution erteilt worden. Wo keine Vergangenheitsbewältigung, dort auch keine Bürgerlichkeit.

Das nennt man eine ideologische Engführung. Denn der Bürger ist in Wahrheit die Synthese aus dem Bourgeois und dem Citoyen, aus privaten und gemeinschaftlichen Interessen, die sich gegenseitig ausbalancieren. Der Citoyen ist der Stachel im Gewissen des Bourgeois, der verhindert, daß der wirtschaftliche und pekuniäre Egoismus sich verselbständigt. Umgekehrt bildet der nüchtern-berechnende Bourgeois den Gewissensstachel des Citoyen. Indem er ihn erdet und mahnt, daß in jeder Regelüberschreitung ein konkretes Risiko steckt, hindert er ihn daran, sich in ideologischen Fanatismus hineinzusteigern.

Genau dieser Zusammenhang wurde 1968 aufgelöst. Der Bourgeois wurde verworfen im Vertrauen auf die Unendlichkeit der wirtschaftlichen Ressourcen. Gleichzeitig warf der (studentische) Citoyen jegliches Schuldgefühl über Bord und steigerte sich so in eine neue Qualität hinein. Die Rechtfertigung dazu bezog er aus der NS-Schuld des Bürgertums sowohl in seinen Bourgeois- wie seinen Citoyenanteilen. Der Sozialphilosoph Peter Furth spricht daher, ganz im Gegensatz zu Schmid, von der „verweigerten Bürgerlichkeit“ dieser Generation. Sie wurde nicht dadurch aufgehoben, daß ihre Protagonisten später in hohe Staatsämter, teure Altbauwohnungen und Grunewaldvillen eingezogen sind.

Schmids Begriff von Bürgerlichkeit ist einerseits ein formaler, andererseits ein ideologischer. Die liberalen Anteile sind fast völlig verschwunden. Um den Unterschied zwischen dem Westen und dem unbürgerlichen Osten zu verdeutlichen, greift er zu brachialer Rhetorik: „In der alten Bundesrepublik sind Rechtsradikalismus und Antisemitismus geächtet, die Mehrheit der Bürger möchte nichts damit zu tun haben. Und sie würde sich daher nie offen mit ausländerfeindlichen Hetzern und Schlägern solidarisieren.

Gewiß, diese Ächtung kam von oben, und mancher fügt sich vielleicht nur widerwillig darein. Sicher aber hat diese Ächtung das Bewußtsein der Westdeutschen für Menschenrechte und deren Gefährdungen geschärft. Vor allem aber: Die Ächtung funktioniert.“ Die funktionierende „Bürgergesellschaft“ hätte „sich zuletzt nicht nur an Bahnhöfen zu erkennen gegeben“. Ob er damit auf die körperlichen Attacken gegen AfD-Funktionäre im Vorfeld der Landtagswahlen anspielt, bleibt offen.

Lassen wir den degoutanten und gouvernantenhaften Ton, die impliziten Unterstellungen, Falschmeldungen, Übertreibungen, fehlenden Kontexte einmal beiseite. Stellen wir einfach fest, daß der Zustrom von Millionen Dritte-Welt-Migranten keine bürgerliche, sondern eine revolutionäre Politik darstellt, die darauf hinausläuft, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Und erörtern wir die Frage, wie viele der Bürgermädchen, die im Sommer 2015 auf westdeutschen Bahnsteigen mit Teddybären und Kußhänden um sich warfen, wohl in der Silvesternacht heulend nach Hause liefen, weil ihnen die „Refugees“ ungefragt in den Schritt gegriffen haben, und wer für deren Ahnungslosigkeit politisch verantwortlich ist.

Die Rede von Rechtsradikalismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit hat keinen Erkenntnis-, nur einen politischen Gebrauchswert. Sie sind Drohvokabular und Herrschaftssprache. Schmid bekennt sich offen zum autoritären Gestus („von oben“), ohne seine Herkunft zuzugeben. Er entstammt keiner Bürgerlichkeit, sondern der „repressiven Toleranz“ des Herbert Marcuse, von diesem auch als „befreiende Toleranz“ bezeichnet. Sie meint die „Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts und Duldung von Bewegungen von links“ einschließlich der „Intoleranz gegenüber dem Denken, der Meinung und dem Wort“. Diese revolutionäre Theorie ist zur staatlichen Praxis geworden. Sie deshalb bürgerlich zu nennen, ist Falschmünzerei.

Und wofür das alles? Es geht nicht zuletzt darum, das eigene Lebenswerk nicht entwerten zu lassen. Das rechtfertigt die permanente Steigerung des Einsatzes. Im September 2016 veröffentlichte Schmid in der FAZ den Artikel „Durch die Hintertür in eine neue Ära“, in dem er Merkels Grenzöffnung feierte. „Sicher doch, das Ganze ist ein riskantes Spiel (...). Aber vielleicht sollten wir das Spiel wagen.“ Es handele sich – nach Wolfgang Schäuble – um „unser ‘Rendezvouz mit der Geschichte’“. Hier geht die revolutionäre Citoyen-Romantik mit dem Verfasser endgültig durch, um in die Vision eines „bavaria-verträglichen“ Islam einzumünden.

Peter Furth stellte am Anfang seines zitierten Aufsatzes über die „Motive, Mythen, Folgen der 68er Kulturrevolution“ fest, daß Bonn seither „nicht mehr als ein deutsches Piemont gelten“ konnte, weil es „aus dem Schatten der deutschen Geschichte herausgetreten“ sei. Die Frage sei nur, ob dieser Bruch irgend etwas Brauchbares („Tragendes“) hervorgebracht habe. Die Frage war rhetorisch gemeint. Nach dem Totalbankrott der DDR bildete die Post-68er Bundesrepublik das politische, wirtschaftliche, institutionelle und auch diskursive Modell für das wiedervereinigte Land. Wenn es sich heute gleich im doppelten Sinne als nicht überlebensfähig erweist, liegt das viel mehr an ihrer verweigerten Bürgerlichkeit als am unbürgerlichen Charakter der Ex-DDR.