© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/16 / 04. November 2016

Ausbeutung von Schuldgefühlen
Propagandaministrant des Neo-Biedermeier: Der Schriftsteller Marcel Beyer erhält am Samstag den Georg-Büchner-Preis
Rolf Stolz

Am 5. November erhält Marcel Beyer für sein „unverwechselbares Werk (…), das die Welt zugleich wundersam bekannt und irisierend neu erscheinen läßt“, den mit 50.000 Euro dotierten wichtigsten deutschen Literaturpreis, den Georg-Büchner-Preis. Natürlich feiern Staatspreise zuallererst den Staat, der sie vergibt. Gelegentlich werden unabhängige, unbestechliche Künstler ausgezeichnet, oft genug aber die politisch genehmen, kontur- und kantenlosen.

Seit 1923 existiert der Büchner-Preis, seit 1951 verantwortet ihn – finanziert von Staat, Land und Kommune – die Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Als erster erhielt ihn Gottfried Benn, und es folgten – etwa mit Botho Strauß oder Jürgen Becker– etliche erstrangige Autoren. Aber genau das verursachte, wie Helmut Böttiger in der Zeit am 28. Juni 2016 zu berichten wußte, „schmerzhaftes Aufstöhnen im Feuilleton“. Erst 2015 habe man sich „mit Rainald Goetz dem allgemeinen Diskurs in der medialen Öffentlichkeit unmittelbar angeschlossen“. Die Folge: „Da jubelte das gesamte Feuilleton: Das ist einer von uns!“

Repräsentant des bräsigen Mittelmaßes

Nun folgt dem einstigen Klagenfurter Stirn-Aufschlitzer ein Autor, der keine Blut-Performance braucht, um seine Anschlußfähigkeit an den linksliberalen Konformismus zu beweisen. Auch er wird von taz bis FAZ gepriesen: „Verdient wie kaum ein anderer“, „großartig“, „subtile Sprach- und Bildermacht“. Ein Repräsentant des bräsigen bundesdeutschen Mittelmaßes erhält den nach dem politischen und sprachlichen Revolutionär Büchner benannten Preis – das und nicht die Nobelpreise für Bob Dylan 2016 und Dario Fo 1997 hätte der Oberkritikus Denis Scheck als „Witz“ kennzeichnen sollen.

 Marcel Beyer, 1965 in Tailfingen/Württemberg geboren, studierte Literaturwissenschaften in Siegen. 1991 erschien sein Romandebüt „Das Menschenfleisch“, 1995 der mehrfach übersetzte Roman „Flughunde“. Es folgten Lyrikbände, die Romane „Spione“ (2000) und „Kaltenburg“ (2008), letzterer eine Art Abrechnung mit dem als Natur-Nazi karikierten Konrad Lorenz. Ferner veröffentlichte Beyer Erzählungen und Essays, darunter „Putins Briefkasten. Acht Recherchen“ (2012), und schrieb Opernlibretti. Ausgezeichnet wurde er unter anderem mit dem Uwe-Johnson-Preis 1997, dem Joseph-Breitbach-Preis 2008, dem Kleist-Preis 2014, dem Bremer Literaturpreis 2015 und dem Düsseldorfer Literaturpreis 2016.

Das ist seine Tragik: Ein gebildeter, literarisch und rhetorisch begabter junger Mann, der durch den Höhenflug seiner „Flughunde“ und durch massive staatliche Förderung immer angepaßter und stromlinienförmiger schreibt und immer schneller erfaßt, was den Mächtigen und den Machern gefällt, wird vom „angry young man“ zum Hofdichter des politkulturellen Establishments.

So wie einst zwischen 1815 und 1848 Klassik und Romantik im Biedermeier ihren Abglanz und Abgesang hatten, das Handwerkliche brillierte und die schöpferische Kunst eher durch Abwesenheit glänzte, so ist im heutigen Neo-Biedermeier die ehemalige Avantgarde nur noch eine dekorative Reminiszenz. Wie sehr auch Marcel Beyer von Proust bis Celan, von Trakl bis Mayröcker abkopierte Originalität aus zweiter Hand beschwört (und durch gezielte Namensnennung avisiert, wen er alles kennt und wer ihm eine Schallplatte mit ins Kaffeehaus bringt) – es entsteht daraus lediglich sekundäre Sekundärliteratur.

Dabei bemüht Beyer sich um eine gesuchte, feinsinnig wirkende Sprache, die zwar trotz ihrer Detailhuberei unpräzise und unlebendig ist, aber dem linksliberalen Spießer entgegenkommt, der nach Zauberberg-Feeling lechzt und es gern gediegen-gehoben hat. Dieser Autor weiß in der Tat vieles, aber dieses viele verhilft ihm nur dazu, eine recherchegestützte Faktensammlung mit reichlichen Kopfgeburten zu verquicken – etwa mit der weltbewegenden Entdeckung, daß eine seiner Lesungen ausgerechnet am vierten Todestag W. G. Sebalds stattfand.

Beyers „Vergegenwärtigung deutscher Vergangenheit“ nicht allein in den „Flughunden“ beschrieb Helmut Böttiger so: „Marcel Beyer scratcht sich durch die deutsche Vergangenheit.“ Scratchen – das ist die Arbeitsmethode der Disc-jockeys, die rhythmisch über die Plattenteller fummeln. In der Tat operiert Marcel Beyer beim Durchsurfen der Historie ganz ähnlich: Er trudelt quer durch die Geschichte, komplett oberflächlich, voller Mißtöne, rein gefühlsgeleitet und sich eines billigen, hohlen Pseudo-Antifaschismus der Ausbeutung von Schuldgefühlen bedienend, der die konkreten Widersprüche unter pauschalen Vorurteilen verschwinden läßt.

Konsequent wird alles Deutsche attackiert

Die „Flughunde“, die einen Akustiker verkoppeln mit dem letzten Lebensabschnitt der von den Eltern umgebrachten Goebbels-Kinder, beginnen gleich mit einer Szenerie „frisch getrimmter“ und fanatisch angebrüllter Befehlsempfänger „in feuchter brauner Uniform“. Solche Szenen, die eins zu eins in Hollywoodfilme über deutsche Un- und Untermenschen passen würden, werden dann angereichert mit Pennälerphantasien von der Gemeinschaftsdusche, „wo alle voreinander entblößt werden bis auf die kaum erwachten Schwänze“. Konsequent wird alles Deutsche attackiert. Während die „Entwelschung“ im wieder zu Deutschland gehörenden Elsaß nach 1940 beredt angeprangert wird, fällt die dortige Entdeutschung von 1920 bis 1940 und nach 1945 unter den Tisch. Denn der Ewige Feind ist schließlich der Ewige Deutsche, inklusive der „westeuropäischen Nationalsozialisten“, die 1990, wie man in „Putins Briefkasten“ nachlesen kann, den Osten Deutschlands ideologisch nicht „im Stich lassen“ wollten. 

Selbst in der Lyrik, etwa in „Kirchstettner Klima“ (im Band „Falsches Futter“ von 1997) läßt Beyer es sich nicht nehmen, gegen den großen Lyriker Josef Weinheber zu geifern, der in diesem niederösterreichischen Dorf lebte und begraben wurde. Selbst die sowjetischen Soldaten behandelten Weinheber 1945 voller Hochachtung; der englische Dichter Wystan Hugh Auden kam seinetwegen in diesen Ort, in dem er von 1957 bis 1973 jeden Sommer verbrachte und sein Grab erhielt. Bei Beyer wird aus dem ebenso patriotischen wie unpolitischen Dichter ein Josef mit blankgewichsten Stiefeln und Hakenkreuzplakette, der „Blondie Fass!“ ruft (Blondie hieß Hitlers Schäferhund). Dazu die süßen Beyer-Verse: „Die Frau des Dichters aber schreibet leise/ mit der Maschin unübertrefflich Volkes/ Speise.“  

In diesen Kontext paßt eine entlarvende Begebenheit, die Marcel Beyer bei einer Lesung in der Kölner Stadtbibliothek selbst berichtete. Kaum aus  Japan und Australien zurückgekehrt (der rasende Kulturbotschafter), wurde er zu einer Konferenz mit russischen und litauischen Autoren nach Königsberg eingeladen. Dort kam ein russischer Dichter auf ihn zu und sprach ihn an: Er habe Agnes Miegel ins Russische übersetzt. Da war er aber an den Falschen geraten! Der eiserne Antifaschist Beyer kannte ja die Miegel aus seinem Schullesebuch und wußte aus dem Netz, daß sie eine „NS-Dichterin“ war. Er jagte den russischen Hitleristen weg. Leider erfuhr er so nicht, daß da ein „jüdischer Nazi“ den kleinen Marcel infiltrieren wollte! Denn es handelte sich um den Dichter Sem Chaimowitsch Simkin (1937–2010), einen wunderbaren Menschen und Menschenfreund, der seit Anfang der neunziger Jahre neben Agnes Miegel in acht Bänden ostpreußische Dichter aus vier Jahrhunderten übersetzt hatte. 

Dichtung und Literaturbetrieb – das sind zwei Welten. Große Dichter drücken das aus, was über sie selbst und ihre Epoche hinausweist, so sehr ihnen auch ihre Gegenwart Stoff und Gestalten liefern mag. Die akkurat modischen poetae minores dagegen, die epigonalen Autoren der Zweiten bis Dritten Liga, bleiben stecken im Stofflichen und Zeitbedingten. Sie verbiegen sich bei ihren Verbeugungen vor dem Zeitgeist, sie sind erledigt und haben sich erledigt, wenn die Mode vorbei ist. Theodor Fontane nannte dies Phänomen nach dem seinerzeit hochberühmten Emanuel Geibel „Geibelei“. Von diesem haben außer dem Lied „Der Mai ist gekommen“ allenfalls einzelne Übersetzungen überdauert. Was wird von Marcel Beyer und der Beyerei bleiben, außerhalb der Rubrik „Kuriosa und Gedöns“? 

Foto: Marcel Beyer: Er trudelt quer durch die Geschichte, oberflächlich, voller Mißtöne, und bedient sich eines hohlen Pseudo-Antifaschismus