© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/16 / 04. November 2016

Bildersturm schafft Platz für Konsum
Saudi-Arabien: Die Herrscherdynastie schleift in Mekka frühislamische Kulturstätten
Wolfgang Kaufmann

Die muslimischen Pilger, welche heutzutage nach Mekka kommen, erwartet ein bizarrer und für manche sicher auch schockierender Anblick: nicht die neun Minarette der 638 n. Chr. eingeweihten Al-Haram-Moschee mit dem islamischen Zentralheiligtum der Kaaba dominieren die Silhouette der Geburtsstadt des Propheten Mohammed, sondern die Abraj Al Bait Towers. Diese mondäne Wolkenkratzer-Formation, die unter anderem das Mecca Royal Clock Tower Hotel beherbergt, überragt die höchste Spitze der unmittelbar benachbarten größten und heiligsten Moschee der Welt um sagenhafte 512 Meter! Zudem steht das von der Saudi Binladin Group errichtete, 15 Milliarden Euro teure und 2012 eingeweihte Bauwerk genau an der Stelle der historisch wertvollen osmanischen Adschjad-Zitadelle, deren Zerstörung seinerzeit heftige Proteste seitens der Türkei auslöste.

Auch das Geburtshaus von Mohammed mußte weichen

Und das ist bei weitem nicht der einzige Kulturfrevel, der auf das Konto der wahhabitischen Herrscherdynastie Saudi-Arabiens und der Bauunternehmerzunft des Wüstenstaates geht. So verschwanden seit 1995 um die 95 Prozent der labyrinthartigen Altstadt von Mekka rund um die Al-Haram-Moschee (die übrigens ebenfalls von der Firma des Halbbruders von Osama bin Laden umgebaut wird, so daß sie künftig 2,2 Millionen Gläubige fassen kann). Damit kam beispielsweise das Ende der ottomanischen Bögen, die jahrhundertelang das Bild der Stadt prägten. Ebenso verschwand das Haus von Mohammeds erster Ehefrau und „Mutter aller Gläubigen“, Chadidscha bint Chuwailid. An dessen Platz prangen nun öffentliche Toiletten. Auch vor dem Anwesen des Abu Bakr, einem engen Weggefährten des Propheten, der später zum Kalifen avancierte, machte die Abrißbirne nicht halt – zugunsten des Hotels Makkah Hilton. Letztlich traf es sogar das Geburtshaus von Mohammed selbst, das einst unweit der Kaaba am Rande des Hügels Abu Qubais stand und dem Neubau einer Bibliothek weichen mußte, an deren Mauern nun Schilder darüber belehren, daß der Prophet wahrscheinlich ohnehin an ganz anderer Stelle zur Welt gekommen sei.

Zählt man sämtliche Bausünden solcher Art zusammen, wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten über 300 Kulturstätten aus der Gründerzeit des Islam sowie der Periode der Herrschaft der Abbasiden und Osmanen dem Erdboden gleichgemacht, weshalb historische Gebäude wie der noch verschont gebliebene zweistöckige Palast Qasr as-Saqquaf im Ma‘abdah-Quartier heute absoluten Seltenheitswert besitzen.

Dieses Wüten resultiert zum einen aus dem eklatanten Mangel an ausreichenden Übernachtungsmöglichkeiten für die kontinuierlich wachsende Zahl der Wallfahrer, zum anderen aber auch aus der Ideologie der Wahhabiten. Sie impliziert schließlich die „Entsorgung“ aller Hinterlassenschaften aus Zeiten, in denen der Islam noch anders praktiziert wurde als unter der Herrschaft der puritanisch-traditionalistischen Sekte, welcher die politischen Führer Saudi-Arabiens angehören und die auf den Lehren von Muhammad Ibn Abd al-Wahhab (1703–1792) basiert.

Solcherart Vandalismus betrieben die Wahhabiten deshalb auch schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als es ihnen zum ersten Mal gelang, die beiden heiligen Städte Mekka und Medina einzunehmen. Damals zerstörten sie zahlreiche Grabmäler von Heiligen aus der Frühphase des Islam. Dies wiederholte sich ab 1924, als die wahhabitischen Ichwan („Brüder im Geiste“) das haschimitische Königreich des Hedschas überrannten, woraufhin dann Sultan Abd al-Aziz Ibn Saud den Königstitel annahm und die noch heute bestehende Herrscherdynastie der Saudis begründete.

Geschäfte mit westlichen Luxusprodukten

Mittlerweile können sich Bauunternehmer wie Bakr bin Laden, der an der Spitze des Saudi Binladin Konzerns steht und im Ergebnis genauso kulturzerstörerisch agiert wie Maos Rote Garden im China der Kulturrevolution oder die Horden des Islamischen Staates in Palmyra, Mossul und anderswo, sogar auf eine Fatwa des obersten religiösen Führers von Saudi-Arabien berufen. Großmufti Scheich Abdul-Aziz Ibn Baz verkündete nämlich vor einigen Jahren: „Es ist nicht erlaubt, Gebäude und historische Stätten zu verherrlichen. Denn dies führt zur Vielgötterei.“

Deshalb werden in Mekka bald weitere solcher Anlagen entstehen wie die Abraj Al Bait Towers, und die Heiligen Stätten immer mehr in ihren Schatten stellen. Besonders protzig – oder besser gesagt: brutal – mutet dabei der gigantomanisch-geschmacklose Jabal-Omar-Komplex an, neben dessen unzähligen Hochhaustürmen die Al-Haram-Moschee vollends wie Spielzeug wirken dürfte. Dazu soll das Heiligtum selbst ein überdimensioniertes Sonnendach aus vier Schirmen erhalten, die frappierend an gigantische Satellitenschüsseln erinnern.

Paradoxerweise dienen die Neubauten aber nicht nur dazu, den Pilgern mehr Komfort zu bieten – für 400 Euro pro Übernachtung aufwärts, versteht sich. Vielmehr macht der Bildersturm gegen alles historisch Gewachsene auch Platz für Gebäude, in denen einzig und allein dem Konsum gehuldigt wird. Mekka ist zwar für „Ungläubige“ absolutes Sperrgebiet, obwohl der Koran denen eigentlich nur das Betreten der Al-Haram-Moschee verbietet – das gilt aber nicht für Luxusprodukte oder andere begehrte Artikel, die aus dem Westen kommen. So finden sich in Mekka unter anderem Geschäfte von A & A Fashion, Body Shop, Beverley Hills Polo Club, Bonia, Cache, Carpisa, Charles & Keith, Clarks, Coach, DKNY, Etam, Fiorangelo, Giordano, Hush Puppies, Jennyfer, L’Occitane, Lifestyle, Mango, Nayomi, New Yorker, Orange, Paris Hilton, Socks, Svarovski, Swatch, Tommy Hilfiger, Women Secret, Yves Roche und Zara.

Somit ist die kulturelle Identität von Makkah al-Mukarramah, also „Mekka der Ehrwürdigen“, unter der Ägide der „Hüter der Heiligen Stätten“ aus dem Hause Saud gleich doppelt bedroht: zum einen durch den gnadenlosen Abriß der Zeugnisse der großen Vergangenheit der Stadt und des frühen Islam, zum anderen durch die galoppierende Verweltlichung aus Gewinnsucht. Einen größeren Bärendienst können die Wahhabiten der Religion, für deren Reinheit sie angeblich einstehen, gar nicht erweisen.