© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/16 / 04. November 2016

Ghettos von Abtrünnigen
Dystopie: Boualem Sansals Roman „2084“ beschreibt eine Kontrollgesellschaft in religiösem Gewand
Felix Dirsch

Die Begegnung von Islam und Christentum, samt vielfältiger kultureller Implikationen innerhalb und außerhalb Europas, zählt zu den großen Themen der französischen Gegenwartsliteratur. Nach Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“, der die Auszehrung Europas durch verbreitete Dekadenz schildert, ist kürzlich ein weiterer Erfolgstitel in deutscher Übersetzung erschienen: Mathias Enards „Kompaß“. Diese Schrift setzt zu Houellebecq insoweit einen Kontrapunkt, als in ihr die lange Begeisterung des Okzidents für den Orient beschrieben wird.

Da paßt es gut in die Landschaft, wenn der unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnete algerische Schriftsteller Boualem Sansal (JF 13/16), der seine Werke in französischer Sprache verfaßt, Islam und Islamismus von einer Seite beleuchtet, die weder mit der Perspektive Houellebecqs noch mit der Enards viel gemein hat. Sansals Text rückt nicht die gemäßigte Variante des Islam in den Mittelpunkt, sondern – wenigstens prima vista – die strenge Observanz.

Etliche Anspielungen Sansals sind zu leicht zu entschlüsseln: „Yölah“ meint „Allah“, den Allmächtigen. Ein Gott ist wichtig für die Festigung der Macht, aber er kommt nicht ohne einen Propheten aus, der alles auf Erden richtet. Dies ist Abi, der „Entsandte“, der die Ideen steuert und abweichendes Handeln maßregelt. Das Reich der fernen Zukunft heißt Abistan und ist eigentlich Zeit und Raum entrückt.

Nun weiß auch Sansal, daß sich theokratische Regime in der Moderne tendenziell überlebt haben, so sehr auch die Gegenwart einige Renaissancen von ihnen, besonders im islamischen Kulturkreis, kennt. So empfiehlt es sich, nach dem religiös sanktionierten den zweiten Mechanismus zu betrachten, mit dem das Herrschaftssystem aufrechterhalten wird: die Leugnung der Vergangenheit und die Veränderung der eigenen Geschichte. Auch diese politische Strategie ist in der Gegenwart bekannt.

Hoffnung ist nicht herauszulesen

Der Held der Geschichte, Ati, lebt zunächst wie alle anderen: Er betet und arbeitet und fügt sich den Gegebenheiten. Das individuelle Denken ist abgeschafft, alles ist öffentlich. Überall lauern Spitzel. Doch der Protagonist will die Unterdrückung möglichst hinter sich lassen. „Er fand die Freude wieder, zu glauben ohne sich Fragen zu stellen“, und kam zu dem Ergebnis, „daß der Mensch nur in der Revolte und durch die Revolte existiert und sich entdeckt“. Wer Freiheit will, muß dem Religiösen entfliehen. Er muß sich dem Zweifel hingeben, auf der Suche nach neuen Räumen sein. So entdeckt Ati die Ghettos von Abtrünnigen, die in einer vorgläubigen Welt leben. 

Doch was bringt diese Erkundungstour, die der Aufmüpfige mit seinem Freund Koa unternimmt? Kommt nach Überwindung der Glaubensdiktatur nun endlich die Freiheit? So einfach ist es nicht. Am Ende steht ein riesenhafter Apparat, dem nicht beizukommen ist. Das Resignative überwiegt. Eine Hoffnung ist aus dem Roman nicht herauszulesen.

Das große Vorbild Sansals ist offenkundig; bereits der Titel nimmt Bezug auf George Orwells berühmte Erzählung. 1948 erschienen, verlegte der Brite die Geschehnisse bekanntlich ins Jahr 1984. Wie sieht ein dystopischer Entwurf aus, der ein Jahrhundert weiter in der Zukunft spielt?

Eine Gemeinsamkeit von Sansals Roman mit seinem literarischen Vorbild ist die mediale Manipulation. Doch anders als „1984“ bleibt „2084“ abstrakt. Die Figuren sind weitgehend blaß. Namen wie „Toz“, „Mockbi Kho“, „Gkabul“, „Ank und Cro“ sind zuweilen schwer in die Handlung einzuordnen. Die Erzählung gleicht einer Suada, in der einige Erlebnisse von Personen eingestreut werden, deren Kontext öfter nicht leicht zu verstehen ist. Am ehesten läßt sich noch die Öde diktatorischer Mechanik herauslesen. Der Titel ist insoweit irreführend, als die Erzählung chronologisch wohl lange nach 2084 zu verorten ist.

Wer den Roman mit anderen Veröffentlichungen Sansals vergleicht, kann mit Wehmut klagen: Schade, daß er nicht – wie in der Aufsatzsammlung „Allahs Narren“ – erneut die Finger konkret und angriffslustig in die Wunden dieser Glaubensrichtung legt! Messerscharf seziert der Autor darin die verschiedenen Strömungen der Weltreligion und die von ihnen ausgehenden Gefahren, gerade für den oft ahnungslosen Westen. Das hat Sansal auch hierzulande viele Anhänger verschafft. Vielleicht ist der Literat doch ein besserer Sachbuchautor.

Boualem Sansal: 2084. Das Ende der Welt. Roman. 4. Auflage, Merlin-Verlag, Gifkendorf 2016, gebunden, 281 Seiten, 24 Euro