© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/16 / 04. November 2016

Der Flaneur
Regen und Weißburgunder
Albrecht Klötzner

Spätherbst, an einem Sonntag­nachmittag: Die tiefstehende Sonne blinzelt durch die Wolken – ideales Weinwetter. „Schatz, wir gehen in die Alte Schmiede, auf einen Weißburgunder!“ Also Wachsjacken an und hinein in den Herbst. Die Außenterrasse der historischen Gaststube ist gut besucht, meist von Paaren mittleren Alters. Wilder Wein umrankt den Terrassenzaun, er leuchtet gelb und tiefrot. Die Kellnerin im Dirndl scherzt mit Gästen, als sich mit einem Mal dunkle Wolken vor die Sonne schieben. Sofort wird es ungemütlich kühl, und es beginnt leicht zu tröpfeln.

Dann pladdert Platzregen los! Gäste greifen ihre Gläser, verlassen fluchtartig die Außensitze und erobern das gemütliche Gastrauminnere. Meine Freundin, die Kellnerin und ich raffen Kissen von den verlassenen Holzstühlen und buckeln sie ins Trockene. Noch einmal raus, noch eine Ladung – geschafft! Nasse Haare hängen uns in die Stirn, die Kellnerin honoriert es mit: „Vielen Dank!“ Wir bestellen noch einen Wein, die Kerze auf dem Tisch leuchtet, und wir reden über unsere bevorstehende Hochzeit. Wer wird eingeladen, was kostet das alles, wo feiern wir.

Durch das Fachwerk-fenster sehen wir aufsteigenden Dampf aus rotem Weinlaub.

Nach dem dritten Glas breitet sich wohlige Müdigkeit aus. Die Haare sind wieder trocken, der Regen hat fast aufgehört. Durch das Fachwerkfenster sehen wir aufsteigenden Dampf aus rotem Weinlaub. „Zahlen!“, rufe ich und recke den rechten Arm in die Höhe, in der Hand mein abgewetztes Portemonnaie, um meine Absicht zu signalisieren. Pro Glas knapp sieben Euro, mal sechs Gläser – ich ziehe einen Fünfzig-Euro-Schein aus dem Geldfach, nehme mir vor, auf 45 Euro aufzurunden. Die leicht beleibte Dirndl-Kellnerin kommt lächelnd an den Tisch, stützt beide Hände in Faustform auf die Tischkante und beugt sich nach vorn. Ich ertappe mich, wie mein Blick in ihrem Dekolleté versinkt. „Geht aufs Haus“, sagt sie fröhlich. „Wenn ihr nicht geholfen hättet, wären meine Sitzkissen klitschnaß geworden.“