© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/16 / 11. November 2016

Die Apotheke der Welt steht in Amerika
Pharmaindustrie: Die Revolution in der Medikamentenentwicklung / Biotechnologie nicht mehr „Made in Germany?“
Jörg Schierholz

Seit Jahrtausenden nutzen Menschen Mikroorganismen für die Bier- und Broterzeugung – nun steht der Medizin eine Revolution bevor: Auf biotechnologischem Weg hergestellte Arzneistoffe eröffnen derzeit völlig neue Perspektiven für Diagnostik und Therapie und sorgen dabei auch für eine globale Neuordnung der Pharma-Märkte. Die Biotechnologie ist damit die Schlüsseltechnologie mit enormem Innovations- und Wachstumspotential für viele Anwendungsbereiche in der Medizin. Ein Großteil der weltweit neu zugelassenen Medikamente stammt inzwischen aus den Laboren der jungen Branche, und die großen Pharmakonzerne füllen ihre Medikamenten-Pipelines zunehmend mit Entwicklungen von kleinen und mittleren Biotech-Unternehmen.

Das neue Wissen ermöglicht jetzt neue Wirkstoffklassen

1919 verwendete der ungarische Ingenieur Károly Ereky zum ersten Mal den Begriff „Biotechnologie“ und sagte ein biochemisches Zeitalter voraus, das in seiner Bedeutung mit der Stein- und Eisenzeit vergleichbar sein sollte. Zuvor entdeckte Emil Fischer die Wirkweise von Enzymen, Friedrich Miescher isolierte aus den weißen Blutkörperchen die Nukleinsäuren, Robert Koch revolutionierte mit Louis Pasteur die medizinische Mikrobiologie, Nobelpreisträger Emil von Behring setzte erstmals Antiseren zur Behandlung von Infektionserkrankungen ein, Paul Ehrlich und Karl Landsteiner wirkten als Immunologiepioniere, und mit der Wiederentdeckung der Arbeiten von Gregor Mendel startete das Zeitalter der klassischen Genetik.

Die zweite Revolution fand 1953 mit der Aufklärung der Struktur der DNA-Doppelhelix durch James Watson und Francis Crick statt und mündete im Jahr 2000 in der kompletten Entschlüsselung des menschliche Genoms. Das neue Wissen ermöglicht jetzt neue Wirkstoffklassen – die Biopharmazeutika, welche neue therapeutische Angriffspunkte erschließen und damit Chancen auf eine erfolgreiche Behandlung schwerster Erkrankungen wie Krebs, Infektionserkrankungen wie HIV, Rheuma, Alzheimer, Diabetes oder neue Impfstoffe eröffnen. Für die Patienten bedeutet der Fortschritt in der medizinischen Biotechnologie vor allem eine gezieltere, sicherere und erfolgreichere Behandlung ihrer Leiden.

Nur wenige Firmen erkannten in der frühen Entwicklungsphase der beginnenden 1980er Jahre das medizinische Potential der Biotechnologie. Die kalifornische Firma Genentech, Hoechst (jetzt Sanofi) oder Boehringer Mannheim (jetzt Roche) setzten früh auf das Gebiet, als die Biochemie noch fest in der Grundlagenforschung verankert war. In den 1990er Jahren kumulierte der gen- und biotechnologischen Fortschritt in einer wahren Gründerzeit. Innerhalb weniger Jahre entstanden Tausende Biotechfirmen. Viele von ihnen waren Ausgründungen öffentlicher oder privater US-Forschungsinstitute, in denen Wissenschaftler ihre Ergebnisse wirtschaftlich zu nutzen suchten.

Daher haben neun der zehn größten Biotechfirmen ihren Sitz in den USA. Die moderne Medizin wäre ohne gentechnisches Insulin, Wachstumshormone, Antikörper gegen Brust- und Darmkrebs und Leukämien, Substanzen bei Asthma, Rheuma, Multipler Sklerose oder für die Organtransplantation undenkbar. Besonders die Immuntherapie von Krebs ist vielversprechend, bei der das eigene Immunsystem des Patienten derart aktiviert wird, daß es Krebszellen zerstört, so wie Paul Ehrlich es vor hundert Jahren als Vision entwickelte.

Die US-Zulassungsbehörde FDA notierte 2015 insgesamt 45 Zulassungen für Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen – ein neuer Rekord. Acht der weltweit 20 meistverkauften Arzneimittel werden mittlerweile biotechnologisch produziert, darunter der Spitzenreiter Humira mit 14 Milliarden Dollar Umsatz weltweit allein 2015. Ursprünglich wurde dieser Antikörper – unter anderem gegen rheumatische Arthritis – von BASF entwickelt, aber im Jahr 2000 an die US-Pharmafirma Abbott für vier Milliarden D-Mark verkauft, als der Konzern sich seiner Pharmasparte entledigte – wohl nicht zuletzt weil Deutschland nicht das richtige Entwicklungsklima für neuartige Medikamente bietet.

Funktionierender Forschungstransfer

So stammen die Biopharma-Umsätze in Deutschland meist von Produkten, deren Patente US- oder britische Firmen halten. Kaum eine deutsche Firma hat es bislang geschafft, eine Idee aus der Grundlagenforschung bis zur zugelassenen Arznei im eigenen Land zu entwickeln. Für den oft zehn bis fünfzehn Jahre langen und Hunderte Millionen Euro teuren Weg fehlt hierzulande das Risikokapital als auch die rechtlichen Vorausetzungen, das Verständnis und Risikobereitschaft. US-Investoren, Politiker und Forscher haben dagegen eine beeindruckende Infrastruktur eines funktionierenden Forschungstransfers von den Hochschulen, professionell gemanagte Start-up-Inkubatoren und Zugang zu ausreichend Risikokapital aufgebaut, bis hin zu renommierten US-Institutionen wie den National Institutes of Health.

Deutschen Wissenschaftlern mit guten Ideen bleibt oft nichts anderes übrig, als in die USA zu gehen, falls sie ihr Produkt einmal auf dem Markt sehen wollen. Die ehemalige Apotheke der Welt ist innerhalb einer Generation zu einem reinen Verkäufermarkt geworden: Die damals weltweit einzigartige Produktionsstätte gentechnisch hergestellten Humaninsulins ist heute in Frankfurt ein Industriemuseum.

Deutsches Forschungsnetzwerk MaxSynBio der Max-Planck-Gesellschaft:  mpg.de/