© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/16 / 11. November 2016

„Wir sind eure Freunde“
Atomindustrie: Westinghouse hat mächtige Fürsprecher / Strategische Interessen nur vorgeschoben?
Thomas Fasbender

Fünf Jahre nach der Kernreaktorschmelze im japanischen Kernkraftwerk Fukushima I und dem beschleunigten deutschen Atomausstieg steht Strom aus Kernspaltung offenbar vor einem neuen Frühling. Schätzungen gehen von einer Verdoppelung der weltweiten AKW-Kapazität in den kommenden 20 Jahren aus. Natürlich nicht in Deutschland, wo spätestens Ende 2022 die letzten drei der heute noch acht Meiler vom Netz gehen sollen.

Laut der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) sind derzeit weltweit 65 Reaktoren im Bau, davon allein in China 20, in Indien sechs, in den USA fünf sowie in Südkorea und den Emiraten je vier. Selbst Ägypten und Pakistan leisten sich zwei neue Kernkraftwerke. Rußland hat neun AKW-Baustellen bei der IAEA gemeldet. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die neue Reaktorgeneration 3-plus, bei der auch ein kompletter Ausfall der Stromversorgung und aller Kühlsysteme nicht zum GAU – zum größten anzunehmenden Unfall – führen soll. Der erste derartige Block ging im August im südrussischen Neu-Woronesch am Don ans Netz.

Siemens hat sich aus der Kernenergie verabschiedet

Derweil stecken die Anbieter nuklearer Brennstäbe ihre Claims ab. Es gibt nur noch zwei ernstzunehmende Konkurrenten: Westinghouse und TVEL, eine Tochter der staatlichen russischen Rosatom. Die Westeuropäer sind bedeutungslos geworden: Die französische Areva steht finanziell auf schwachen Füßen, Siemens hat sich aus der Kernenergie verabschiedet. Die 1886 gegründete US-Firma Westinghouse – einst großer Gegenspieler von General Electric – gehört seit 2006 zum japanischen Toshiba-Konzern. Da der Sitz des strategischen Unternehmens (Entwickler der Atom-U-Bootantriebe) weiter in Monroeville/Pennsylvania ist, fördert Washington Westinghouse nach Kräften – vor allem dann, wenn auch politische US-Interessen auf dem Spiel stehen. In Ostmitteleuropa, einst der Heimmarkt der sowjetischen Atomindustrie, legen US-Politiker sich seit Jahren für die Toshiba-Tochter ins Zeug. Erst recht in Brüssel – Transatlantiker kämpfen gemeinsam dafür, daß die Europäer nicht nur Erdgas, sondern auch Kernbrennstäbe in den USA kaufen und nicht beim russischen Nachbarn.

Nach Aussage des tschechischen Ex-Premiers Jirí Paroubek sichere Westinghouse sich die Hälfte aller Lieferverträge durch „politischen Druck“. Schon in den Neunzigern hätten sich US-Diplomaten für das Unternehmen ins Zeug gelegt. Damals habe es geheißen, nur die überlegenen Amerikaner würden sicherstellen, daß die sowjetischen Reaktoren westlichen Sicherheitsstandards genügten. „Herausgestellt hat sich das Gegenteil. Die Westinghouse-Brennstäbe waren teurer, von geringerer Qualität und führten zu längeren Ausfallzeiten im Kraftwerk“, so Paroubek.

Werbung für Westinghouse betrieb 2012 auch die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton in Prag. „Ich war sehr stolz, daß sie neben mir im Graben stand“, zitiert das US-Wirtschaftsmagazin Forbes Westinghouse-Chef Danny Roderick. Bei den Gesprächen ging es um neue Reaktoren für das südböhmische AKW Temelin, Standort zweier russischer WWER-1000-Reaktoren. Das Techtelmechtel blieb in Moskau nicht unbemerkt. Sechs Monate später reiste der tschechische Premier Petr Necas nach Rußland und beruhigte Rosatom, die Ausschreibung bleibe trotz der US-Intervention gerecht und transparent. Im Juni 2013 fiel Necas einem Korruptionsskandal zum Opfer. 2014 legte der staatliche tschechische Versorger CEZ die Kraftwerkserweiterung mangels Wirtschaftlichkeit ad acta.

Was die Temeliner Brennstäbe betrifft, bleibt Westinghouse zäh am Ball. 2006, bei der bislang letzten Ausschreibung, hatten die Russen sich den Zuschlag für die Lieferungen bis 2020 gesichert. Zuvor, vor 2006, waren auch Westinghouse-Stäbe zum Einsatz gekommen, allerdings, so Forbes, begleitet von Stabilitätsmängeln und Leckagen. In diesem Jahr wurde bekannt, daß die Amerikaner ihre neuen Brennstäbe auch schon vor 2020 in Temelin testen dürfen. CEZ-Sprecher Marek Sviták kommentierte lakonisch, zwei Lieferanten seien besser als einer.

Kampf um Energiesicherheit und Unabhängigkeit?

Bei näherem Hinsehen verschleiern die vermeintlich geopolitischen Argumente der Politiker – Energiesicherheit, Unabhängigkeit von Rußland – nur die eigentlich rein kommerziellen Interessen. Die US-Politik hilft Westinghouse im Überlebenskampf. Seit 2013 hat das Unternehmen Brennstab-Lieferverträge für 60 Reaktorblöcke verloren. Die Zukunft der japanischen Atomenergie ist – trotz Bekenntnis der konservativen LDP-Regierung – ungewiß. Lokale Initativen verhindern das Hochfahren von AKWs gerichtlich.

Statt umgerechnet 700 Millionen Euro kosten die Fukushima-Schäden den Steuerzahler nun jährlich unabsehbare Milliarden. Abriß und die Entsorgung der drei Fukushima-Meiler werden laut AKW-Betreiber Tepco etwa 40 Jahre dauern. Die deutschen KKW, allesamt Westinghouse-Kunden, hängen noch maximal sechs Jahre am Netz. In den drei Jahren 2012 bis 2014 hat Westinghouse rund 1,3 Milliarden Euro verloren. Sogar die Produktion im schwedischen Västerås, wo Westinghouse-Brennstäbe für russische Reaktoren herstellt werden, stand kurz vor der Schließung.

Dennoch konnten die Amerikaner den Marktanteil bei Brennstäben für russische Reaktoren außerhalb Rußlands auf rund 30 Prozent steigern. Auch bei der Vergabe neuer Blöcke konnten sie punkten. Ein besonderes Beispiel ist allerdings Bulgarien. 2012 kündigte die Regierung unter Premierminister Boiko Borisow den vier Jahre zuvor mit Rosatom (ASE) abgeschlossenen Vertrag über zwei WWER-1000-Reaktoren für das im Bau befindliche AKW Belene. Die Entscheidung kostete den bulgarischen Steuerzahler letztlich mehr als 600 Millionen Euro Vertragsstrafe (JF 39/16). Um das Urteil des Pariser Schiedsgerichts ICC abzumildern, wird nun doch über einen möglichen Liefervertrag mit ASE diskutiert.

Für den aktiven AKW-Standort Kosloduj hatte Westinghouse mit seinem AP1000-Reaktor die Nase vorn. „Wir sind eins, wir sind Freunde“, brüstete Borisow sich später vor der US-Handelskammer in Sofia, „wir halten russische Flugzeuge auf, da stoppen wir auch drei russische Energieprojekte. Wenn wir nicht eure Partner sind, wer dann?“ Richard Morningstar, Spezialist für eurasische Energiefragen, schrieb Ende März 2012 an das Clinton-Büro, man möge der Ministerin berichten, die Bulgaren hätten das Belene-Projekt mit den Russen soeben gekündigt. Die Antwort des Direktors für politische Planung, John Sullivan: „Keine schlechte Arbeit.“

2014 begann dann die Ukraine-Krise. Seither unterschreiben die Europäer jeden Vorschlag, wenn er nur „Energiesicherheit und Unabhängigkeit“ verspricht. Gemeint ist die Unabhängigkeit von Rußland. Die EU-Strategie sieht vor, den Bezug russischer Brennstäbe deutlich zurückzufahren. Das betrifft auch die Ukraine, wo die Hälfte des Stroms auf Kernenergie basiert. 2,2 Millionen Euro war es Brüssel wert, einen neuen Brennstab-Lieferanten für fünf ukrainische Reaktoren zu finden. Daß Westinghouse in den Genuß des Auftrags kam, liegt auf der Hand.

Weltweite Statistiken zu AKWs:  www.world-nuclear.org

Foto: Militärübung am südböhmischen AKW Temelin: Die EU-Strategie sieht vor, den Bezug russischer Kernbrennstäbe deutlich zurückzufahren