© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/16 / 11. November 2016

Er war der Höfling Gottes
In der besten aller Welten: Vor 300 Jahren starb der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz
Günter Zehm

Jeder Gebildete kennt ihn, bewundert ihn sogar, doch gelesen hat ihn faktisch niemand, nicht einmal einigermaßen gründlich über ihn gelesen. Man weiß aber trotzdem: Gottfried Wilhelm Leibniz ist, neben Leonardo da Vinci, einer der beiden wirklichen „Universalgelehrten“ des Abendlands gewesen, hat sich überall eingemischt und die kühnsten Taten vollbracht, in Technik und Wissenschaftsorganisation, Mathematik und Linguistik, Politik, Straßenbau und und und. Wir zehren allesamt noch heute von seinen Einsichten und Vorschlägen.

Er war ein Praktiker, wie er im Buche steht – und dabei gleichzeitig der größte Idealist, den man sich nur vorstellen kann. Das Geistesklima, das er um sich verbreitete, unterschied sich kantenscharf von dem der übrigen Großrationalisten des Barockzeitalters, Descartes, Spinoza, Hobbes. Keine Spur mehr von deren „res extensa“, also von Physik und Druck und Gegendruck, keine Korpuskularität,  jedenfalls nicht als dominierendes oder auch nur der „res cogitans“, dem Gedanken gleichgeordnetes Prinzip. Statt des wilden, ungezügelten Tanzes der Atome à la Demokrit herrscht bei Leibniz als Urprinzip des Seins gewissermaßen ein Reigen seliger Geister, nämlich der rein spirituellen „Monaden“. 

Die Monaden reagieren nicht auf Druck und Gegendruck, sondern kommunizieren miteinander in schöner Harmonie; der den Barock charakterisierende Optimismus, also der Glaube, daß man alles erkennen, alles billigen und alles optimal organisieren könne, findet erst bei Leibniz seine schattenlose, vollendete Ausprägung.

Natürlich glaubten auch Descartes, Spinoza, Hobbes an die Optimierung, aber dieser Glaube war bei ihnen von hörbarem Zähneknirschen begleitet, man war „trotzdem“ Optimist, trotz des Umstandes, daß der Naturzustand von Egoismus und dem Krieg aller gegen alle durchtost war, daß es böse, jede Erkenntnis verhindernde Affekte gab und die „Substanz“, also das Eigentliche, letztlich unerkennbar bleiben mußte. Von all diesen dunklen Zweifeln nichts bei Leibniz. Dieser große Nachdenker war zutiefst davon überzeugt, daß es möglich sei, dem lieben Gott grundsätzlich ungehindert in die Lebens- und Schöpfungsbücher schauen zu können,

Eines seiner vornehmsten philosophischen Ziele bestand darin, nachzuweisen, daß Gott die beste aller möglichen Welten geschaffen hatte. Darüber veröffentlichte er seine „Theodizee“, in der es um die Unmöglichkeit ging,  überhaupt etwas grundsätzlich Böses am Horizont der Schöpfung zu entdecken. Alles fügte sich am Ende zur ehernen, in mathematischen Formeln darstellbaren Notwendigkeit. Und für den wahren Nachdenker kam es darauf an, alle Übel gedanklich zu eskamotieren, sie als letztlich positive Elemente in das harmonische, von Weltoptimismus erfüllte System einzuordnen. Das galt nicht nur für die Natur, sondern nicht minder für die Kultur, für die menschliche Gesellschaft, für die Politik.

Leibniz war weit davon entfernt, dort irgendwie differierende Sonderinteressen anzuerkennen. Insofern war er der Barockmensch pur, der gar nicht anders konnte, als immer nur von oben nach unten zu denken, der geborene Fürstenberater, dem das einzelne Individuum als souveräne geistige Kraft an keiner Stelle je ins Visier geriet. Die Gesellschaft war für Leibniz, der sein Leben lang Höfling gewesen ist, nie etwas anderes als ein barocker Hof, den es wohl zu ordnen und zu illuminieren galt.

Leibniz war sein Leben lang ein „Gesellschaftsmensch“, der die zurückgezogene, bescheidene Philosophen-Existenz der Descartes und Spinoza regelrecht verachtete und der sich auch nicht damit begnügt hätte, sich à la Hobbes als reicher Privatier auf ein Schloß zurückzuziehen und von dort stolze Sollenssätze abzulassen. Er war mit Leib und Seele leidenschaftlicher Politiker; sein Werk wimmelt von Denkschriften, die er für die höchsten, mächtigsten Fürsten Europas entworfen hat. Es geht darin um globale Friedensschlüsse, weiträumige geostrategische Unternehmungen, die Verständigung mit China etwa, die Eroberung Ägyptens durch die Franzosen, gesamteuropäische Versöhnung der verschiedenen christlichen Bekenntnisse.

Leibniz liebte die Haupt- und Staatsaktion – das war die theatralische, auf Pomp und Pathos bedachte Seite seiner so typischen Barocknatur. Alles sollte öffentlich, „transparent“ sein, wie auf offener Bühne abrollen, Staunen und Bewunderung erregend. Andererseits war Leibniz, in deutlicher Differenz zum Zeitgeist, nicht im geringsten an Kulissenschieberei interessiert, und folglich fehlt seinen Haupt- und Staatsaktionen alles Surrogathafte. Sie stehen nicht für irgend etwas „hinter“ ihnen, sondern stets für das, was sie aktuell anzeigen. Bezeichnendes und Bezeichnetes sind voll identisch.

Diese Konstellation verleiht der Leibnizschen Rationalität einen ganz eigenen Charakter. Sie ist viel weniger abstrahierend, als es eigentlich ihrem – gerade auch von Leibniz postulierten – mathematisch reduzierenden Gestus zukommt. Auch Leibniz konstruiert zwar „more geometrico“, doch er läßt nicht den geringsten Zweifel daran, daß das Konstrukt lediglich eine Welt der Möglichkeit ist, und parallel dazu eröffnet er als überzeugter Mathematiker eine Welt der Konkretheit; es ist eine Welt der „vérités de fait“, wie er formuliert, die nur darauf hoffen kann, mit den von Gott repräsentierten „vérités éternelles“, den „ewigen Wahrheiten“ übereinzustimmen.

Ohne im mindesten Nominalist oder gar Solipsist zu sein, ist Leibniz ein Fanatiker der Konkretheit. Nichts ist in Wirklichkeit mit einem anderen vollständig gleich, lautet sein Credo; demgemäß läßt er bei den Garten-Unterhaltungen am Hannoverschen Hof die Prinzessinnen und ihre Damen Blätter suchen, die einander ähneln – kein einziges Blatt, prophezeit er ihnen, wird mit einem anderen vollständig identisch sein. Die Einheit der Welt gibt es nur in Gott, sagt er, in den Monaden, den unendlich vielen geistigen Kraftpunkten, aus denen Gottes Welt zusammengesetzt ist und die, jedes in sich, die gesamte Welt spiegeln, den ganzen Kosmos in sich tragen, wenn auch nur virtuell und potentiell, in mehr oder weniger unaufgeklärter, unaufgelichteter Weise.

Das war eine Wiederaufnahme jenes großartigen Gedankens, mit dem Nikolaus Cusanus (als dessen dankbarer Schüler sich Leibniz ausdrücklich bezeichnete) die Idee der Unendlichkeit für sich erträglich gemacht hatte. „Omnia ubique“, „alles ist überall“ – eine Einsicht, die striktesten Idealismus zur Voraussetzung hat und die nun freilich eine Generalkritik am seit Galilei herrschenden demokritischen Atomismus nötig machte. Leibniz hat diese Kritik furios geleistet, indem er zeigte, daß der Gedanke an ein letztes, unteilbares materielles Teilchen, also an ein Atom, ein Ungedanke ist, eine logische Monströsität.

Schon Descartes hatte ja gewisse Zweifel an der materiellen Korpuskularität der Atome, er schenkte sich allerdings die Darstellung des Übergangs vom mathematisch-geometrischen Punkt zum materiellen Atom, behauptete einfach die Identität von beiden, weil er das zur Konstruktion seiner mechanistischen Physik notwendig hatte. Leibniz legte den Finger auf diese Wunde. Der mathematische Raum ist ein Kontinuum und unendlich teilbar, schrieb er. Wenn also Descartes die Körperwelt „rein geometrisch“ als Ausdehnung auffasse, so müsse die Materie ebenfalls ein Kontinuum und ins Unendliche teilbar sein. Wie kann er dann aber von Atomen, also „Un-teilbaren“, sprechen? Der Begriff eines materiellen Atoms ist eine Fiktion, die sich ins Unendliche verliert. Letzten Halt findet der Materialist nicht. Es gibt auf der materiellen Ebene keinen Punkt des Widerstands.

Erschöpfende Kritik erfährt auch die Galilei-Descartessche Konzeption der Bewegung, wobei Leibniz übrigens, wie an vielen Stellen seiner Naturphilosophie, bereits die Relativitätstheorie Einsteins vorwegnahm. Sowenig wie es ein letztes Atom geben kann, argumentiert er, sowenig kann es ein Gesetz von der Erhaltung der Bewegung geben. Für materiell ausgedehnte Körper ist „Bewegung“ nichts weiter als Veränderung in den Nachbarschaftsverhältnissen der Körper, Verschiebung von Teilen des Raums untereinander, die nicht objektiv fixierbar ist. Bewegung ist etwas rein Relatives. Welcher Körper bewegt erscheint und welcher nicht, hängt allein vom Standpunkt des Betrachters ab.

Fortsetzung auf Seite 17





G. W. Leibniz

In Leipzig 1646 als Sohn eines Rechtsgelehrten und Professors für Moralphilosophie geboren, machte Leibniz bereits mit 21 Jahren seinen Doktor in Jura. Er stand in Diensten des Kurfürsten und Mainzer Erzbischofs Johann Philipp von Schönborn sowie des welfischen Herzogs Johann Friedrich. Leibniz war Bibliothekar der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, später wurde er Gründungspräsident der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften. Gottfried Wilhelm Leibniz starb am 14. November 1716 im Alter von 70 Jahren in Hannover.