© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/16 / 11. November 2016

Zeitschriftenkritik: Abenteuer Philosophie
Alter Volksglaube, christliche Symbole
Werner Olles

Der Siegeszug des Christentums über die Azteken in Mittelamerika führte nicht zur Auslöschung einer „primitiven Religion“, aber zu einem religiösen Synkretismus. Symbolisch dafür ist die Kultstätte von Chotula mit der Kirche Santa Maria Tonantzintla im Hintergrund. In der alt-mexikanischen Sprache bedeutet Tonantzin soviel wie „unsere verehrte Mutter“. Und so stehen die Gläubigen vor dem Bildnis der Jungfrau Maria, die einen beten zur Muttergottes, während andere die heilige Göttin Tonantzin um Hilfe bitten. Bereits im 16. Jahrhundert stellte der Franziskanermönch Bernardino de Sahagún eine Kontinuität in der Verehrung der Jungfrau von Guadelupe und Tonantzin fest, die bei vielen Gläubigen bis heute anhält. Dieser Synkretismus bedeutet, daß die Inhalte des alten Volksglaubens in den christlichen Symbolen einfach weiterleben. Selbst beim Bau der Kirchen ließen die Ureinwohner ihre spirituellen Vorstellungen einfließen. Es entstand ein Populärbarock, dessen kosmische und tellurische Energien in der Architektur sichtbar wurden. Santa Maria Tonantzintla vor der grandiosen Naturkulisse des Popocatépetl ist hierfür ein Musterbeispiel. Von den vier Ecken des Kirchturms schauen die Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, einer von ihnen mit dunkler Hautfarbe. Im Innenraum haben indianische Künstler Seitenwände, Kuppeln und Deckengemälde bis in die letzte Ecke mit Engelsfiguren und heiligen, nackten, himmlischen Musikanten geschmückt. Große Körbe mit tropischen Früchten wurden in Stuck gearbeitet. Unter christlicher Oberfläche verbirgt sich eine Darstellung des indianischen Weltbildes, das durch seine integrative Art dazu prädestiniert ist, sich innerhalb des Katholizismus eigenständig und doch eng verbunden mit dem neuen Glauben zu entfalten.

Die viermal jährlich erscheinende Zeitschrift Abenteuer Philosophie befaßt sich in ihrer aktuellen Ausgabe (Nr. 4, Oktober–Dezember 2016) als Schwerpunkt mit dem Thema „Streß“, das inzwischen in sämtlichen Esoterik- und Apothekenblättchen wiedergekäut wird, beschränkt sich aber glücklicherweise nicht darauf, sondern widmet sich auch anspruchsvolleren Themen. Neben dem Türkei-Report „Der kranke Mann am Bosporus?“ sticht hier vor allem der Beitrag über „Schamanismus als archaische Religion“ ins Auge, der der Faszination des Exotischen, des Einsseins mit der Natur, dem Erleben von Ekstase sowie spiritueller Sinngebung und Heilung nachgeht. So bezeichnete der rumänische Religionswissenschaftler Mircea Eliade Schamanismus und archaische Ekstasetechnik als „mythisches Denken“, als Überschreiten der profanen menschlichen Verfassung und Erleben des rituellen Todes, um aus dieser anderen Dimension wichtige Botschaften für das Hier und Jetzt zu erhalten, seien es Prophezeiungen, Krankheiten, Heilmethoden etc. Den Schamanismus verstand er als weitweites Phänomen, dessen vollständigste Form jedoch bei den nordasiatischen und arktischen Völkern zu finden sei.

Kontakt: Münzgrabenstr. 103, A-8010 Graz. Das Einzelheft kostet 6,90 Euro, ein Jahresabo 26 Euro. 

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