© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/16 / 11. November 2016

Dorn im Auge
Christian Dorn

Die Geschichte versteht nur Bahnhof, jedenfalls in Deutschland, wo bereits Lenin verstandesmäßig kapitulierte. So auch am Berliner Hauptbahnhof, wo sich vergangenen Samstag wieder „eine kleine, häßliche Minderheit“ traf, um Merkel „weg“ zu demonstrieren – offenbar Unbelehrbare, denen „die Fähigkeit zum Dialog abhanden gekommen ist“. Zumindest charakterisiert so Stanislaw Tillich, sächsischer Ministerpräsident, in der Berliner Morgenpost gleichen Tags das klassische Pegida-Milieu, als wollte er die Sentenz des Autors Jürgen K. Hultenreich aus dessen jüngstem Aphorismen-Band „Ziele stehen im Weg“ (Verlag Vorwerk 8) veranschaulichen: „Irgendwie gleicht beinahe jede Demonstration einem Flaschenzug.“ Doch deren Kenntnis dürfte bei der Blockflöte Tillich, die noch im Herbst ’89 als stellvertretender Vorsitzender des Rates des Kreises Kamenz die DDR-Politik verteidigte, nicht vorhanden sein. Vielmehr trifft auf ihn wohl ein anderer Aphorismus Hultenreichs zu: „Der ganze Stolz des Demokraten gilt der griechischen Polis. Der ganze Beifall denen, die sie zerstören.“


Die junge Verkäuferin in einem Geschäft des Einkaufszentrums kann für all das nichts. Sie trägt das Namensschild „Neumerkel“ und erklärt auf Nachfrage, der Name komme wohl aus Sachsen – so einfach ist also des Rätsels Lösung. Ganz anders beim NSU-Prozeß. Noch immer vermisse ich den entsprechenden Suchbegriff beim Kreuzworträtsel: Eine Räuberpistole mit drei Buchstaben? NSU.


Die Ratten indes verlassen noch immer nicht das sinkende Schiff. Immerhin, so die Berliner Morgenpost, gebe es in der Hauptstadt „ein bis zwei Ratten pro Berliner“. Der Gastwirt um die Ecke berichtet angesichts dessen, wie er einst eine Fachkraft von der Elfenbeinküste, die in seiner Küche arbeitete, entlassen mußte: Als sein Restaurant am Ku’damm aufgrund einer Baustelle von einer Rattenplage heimgesucht wurde, fing der barfüßige Koch vor der Tür eine herumflitzende Ratte, biß ihr den Kopf ab und präsentierte sich mit blutverschmiertem Mund und irrem Gesichtsausdruck, in der Hand die kopflose Ratte, als berauschter Sieger – ein Ritus, der bei seinem Stamm im Busch als ein Zeichen von Überlebensstärke gilt, eine archaische Form animalistischer Transsubstantiation. Währenddessen schämt sich Markus Maria Profitlich in der Morgenpost dafür, Deutscher zu sein. Zwar weiß ich nicht warum, doch denke ich da an Hultenreichs Aphorismus: „Geht die Realität auf Jagd, / findet sie in jedem Loch sich vor ihr versteckt haltende Deutsche.“