© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/16 / 11. November 2016

Fortsetzung von Seite 15
Günter Zehm

Will man hier weiterkommen, dekretierte Leibniz, dann muß man den Begriff der Bewegung in den der Kraft überführen. Descartes behauptet den steten Wechsel von Bewegung und Ruhe. Aber wo bleibt da die Bewegung, deren Summe doch immer gleich bleiben soll? Gleich bleibt offenbar nicht die Bewegung, sondern die Kraft. Geht ein bewegter Körper in Ruhe über, so hört wohl die Bewegung auf, aber der Körper hört deshalb nicht auf, Kraft zu sein oder Kraft darzustellen. Nur ist die in ihm wirkende Kraft in eine andere Form übergegangen. Das Descartessche Gesetz von der Erhaltung der Bewegung muß also ersetzt werden durch ein Gesetz der Erhaltung der Kraft.

Wohl jeder wissenschaftlich interessierte Zeitgenosse spürt hier, daß es sich auf jeden Fall lohnt, sich mit Leibniz zu beschäftigen, und zwar keineswegs nur aus historischen Gründen. Wo man auch hingreift in seinem Werk, wird man methodische Anregungen, weithin unbekannte, dennoch wertvolle Fakten, faszinierende, die kreative Phantasie beflügelnde Deduktionen finden. Schade nur, daß der Zugang zum Werk ungemein schwierig ist, immer schwierig war.

Erfinder des Computerzeitalters

Leibniz war einer der großen Systematiker des Rationalismus, er hat ganz ohne Zweifel ein System geschaffen und auch schaffen wollen, das das ganze große Welttheater darstellen sollte, in dem alle Teile strikt aufeinander bezogen waren und eins aus dem anderen hervorging. Und dennoch hat es, von der Arbeitsweise her, kaum einen weniger systematischen Philosophen gegeben als Leibniz. Er war, wie Nietzsche, wie Georg Simmel, also in einem ganz modernen Sinne, Aphoristiker und Essayist, außerdem Briefeschreiber.

Er hat nie ein großes systematisches Werk in Angriff genommen, ja, hat, außer Artikeln, Petitionen, Denkschriften, „abstracts“, wie man heute sagt, außer seiner „Theodizee“ nie etwas Längeres zu Lebzeiten veröffentlicht. Alles muß man sich aus Briefen und Artikeln zusammensuchen, und noch dreihundert Jahre nach seinem Tod und trotz blühendster, geschäftigster Leibniz-Philologie ist bei weitem noch nicht alles von ihm veröffentlicht. Es wird noch Jahrzehnte dauern, bis die große Berliner Akademieausgabe fertig ist, wenn sie überhaupt je fertig werden wird. So also steht es mit dem größten Systematiker des klassischen rationalistischen Zeitalters.

Der Abkömmling einer alten Leipziger Gelehrtenfamilie und studierte Jurist der Universitäten Jena und Altdorf (bei Nürnberg) war, wie gesagt, sein ganzes übriges Leben lang Fürstenberater, mit wechselnden Titeln, Gehältern und Privilegien. Er reiste viel in fürstlichem Auftrag umher, nach Paris, London, Holland, Italien, Wien, Dresden, Berlin, wurde ehrenvoll von König Ludwig XIV. von Frankreich, vom deutschen Kaiser, vom russischen Zaren Peter dem Großen und vom preußischen König empfangen, verstand sich auf sämtliche Raffinessen der diversen Höfe und Zeremoniells, war ein anmutiger Unterhalter der fürstlichen Prinzessinnen, intimer Freund der preußischen Königin Sophie Charlotte, Gründer der wissenschaftlichen Akademien von Berlin und Sankt Petersburg.

Niemand wagte es je zu leugnen: Er war in allen nur denkbaren Wissensgebieten gleichgut zu Hause. überblickte die Problemlagen bis auf den Grund, leistete auf allen Gebieten Außerordentliches und oft Pionierarbeit, und vor allem: Er war niemals nur Theoretiker, sondern mit gleicher Leidenschaft auch Techniker,  beschäftigte sich ununterbrochen mit der Verbesserung der Lebenswelt – in der Landwirtschaft, im Bergbau, beim ganz simplen Nägeleinschlagen (er ist der Erfinder des Dübels), bei der pferdelosen Fortbewegung. Er begnügte sich nicht, wie Englands Francis Bacon in der „Nova Atlantis“, mit der Voraussage dessen, was irgendwann einmal technisch möglich sein würde, sondern arbeitete sein Leben lang an der aktuellen Herbeiführung des technisch Möglichen.

Sein berühmtestes, durch die Jahrzehnte hindurch verfolgtes Projekt war die Konstruktion der Rechenmaschine, des Computers, wie wir heute sagen, Leibniz ist – darf man ohne weiteres konstatieren – der Erfinder des Computerzeitalters und der Digitalität. Seine legendäre Rechenmaschine beruhte bereits, wie die heutigen Computer, auf der „Dyadik“, dem binären Zahlensystem, in dem es nur zwei Charaktere oder Ziffern gibt, die Eins und die Null, und  wo eine beliebige Zahl dargestellt wird, indem man sie in eine Summe von Zweierpotenzen zerlegt, wobei die Charaktere jeweils angeben, ob eine Stelle besetzt ist (die Eins) oder nicht besetzt (die Null).

Freilich, die wirkliche Eröffnung des digitalen Zeitalters schon vor dreihundert Jahren gelang nicht, doch daran war nicht Leibniz schuld. Er hatte die Konstruktion seiner Rechenmaschine bereits bis ins letzte Detail zu Papier gebracht – aber zur materiellen Verwirklichung des Vorhabens fehlten die Handwerker, Feinmechaniker, Materiallieferanten, Geldgeber. Selbst die raffiniertesten Mechaniker der Epoche schüttelten ablehnend die Köpfe, sobald Leibniz mit Rechenmaschine auftauchte, und es fand sich auch kein Investor, der Geld hätte lockermachen können.

Seine bevorzugten Diskussionspartner indessen, die Fürsten, Zaren und Prinzessinnen überall in der Welt, hatten anderes zu tun, als sich wegen simpler Rechenmaschinen zu verschulden. Gott schwieg offenbar zu der Affäre. So blieb es bei den „vérités de fait“. In die „verités éternelles“ konnte sie auch ein Leibniz nicht einmünden lassen. 






Prof. Dr. Günter Zehm veröffentlichte 2005 den Band „Die große Schauspielerin Vernunft. Eine Geschichte des Rationalismus in der frühen Neuzeit“ (Edition Antaios), in dessen Mittelpunkt das Werk von Leibniz steht.