© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/16 / 11. November 2016

Ungehobene Schätze
Rückblicke auf die Totalitarismustheorie
Wolfgang Müller

Als Deutungsmodell, das die Struktur- und Wesensgleichheit der faschistischen, kommunistischen und nationalsozialistischen Regime aufzuzeigen versuchte, erlebte die „Totalitarismustheorie“ ihre Glanzzeit in der Nachkriegszeit. Da die grundlegenden Konzeptionen ihrer „Klassiker“ wie Hannah Arendt, Carl J. Friedrich oder Raymond Aron während des „Kalten Krieges“ aber primär der ideologischen Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Herrschaftssystem dienten, kam diese Theorieformation im Zeichen von „Entspannungspolitik“ und „Wandel durch Annäherung“ akademisch außer Mode, so daß sie zum Mauerfall stets unter Verdacht stand, mittels typologisierender „Gleichsetzung“ von NS- und Sowjetherrschaft deutsche „Täterschaft und Schuld zu relativieren“. 

Die von Frank Schale und Ellen Thümmler herausgegebene, von ihnen mit einer pointierten Einleitung versehene Aufsatzsammlung „Den totalitären Staat denken“ bietet eine vorzügliche Einführung in diese heute halb vergessene Sektion der politischen Ideengeschichte des „Zeitalters der Extreme“. Der Band ist in vier thematische Komplexe gegliedert, beginnend mit den „Denkern und Vordenkern“, wobei neben Arendt und Friedrich der bislang kaum beachtete Luigi Sturzo, der italienische Begründer des Totalitarismuskonzepts, der eher als Staatsrechtler bekannte Martin Draht und der Politologe Richard Löwenthal berücksichtigt werden. 

Daran schließt sich eine Inspektion des französischen Theorietheaters an, die wiederum neben einem kanonischen Aron und dem irrlichternden Georges Bataille zumal in Deutschland kaum rezipierte linke Totalitarismustheoretiker wie Cornelius Castoriadis und Claude Lefort vorstellt. Diesem sehr ausführlichen Teil folgen Untersuchungen über philosophische (Karl Popper, Norbert Wiener) und ökonomische (Laski, Hayek, Keynes) Verarbeitungen der „totalitären Erfahrung“.

Zu Recht glauben die Herausgeber, daß die Totalitarismustheorie noch „ungehobene Schätze“ an analytischem Potential offeriert. Um so seltsamer ist es dann, daß der Band sich allein ideenhistorischer Rückschau widmet, ohne auf die Renaissance der Theorie mit ihrer Anwendung auf den Islamismus als „dritte“ totalitäre Herrschaftsform (Nolte) einzugehen. 

Frank Schale, Ellen Thümmler (Hrsg.): Den totalitären Staat denken. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2015, broschiert, 314 Seiten, 49 Euro