© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/16 / 18. November 2016

Kraft und Glaube
Venezuela: Lilian Tintori kämpft für die Freilassung ihres Mannes – und das Ende der Diktatur
Lukas Noll

Lilian Tintori ruft „Libertad!“ so laut sie kann, während sie an dem Maschendrahtzaun rüttelt, der sie von Leopoldo López trennt. Schon wieder sind sechs Tage seit dem letzten Lebenszeichen ihres Mannes verstrichen, der seit genau 1.000 Tagen inhaftiert ist.  Erst auf den noch kräftigeren „Leo!“-Ruf seiner Mutter antwortet Venezuelas bekanntester Oppositionspolitiker durch das Zellenfenster. „Es lebe Venezuela und der Wille des Volkes“, will Tintori später verstanden haben. Die Menschenmenge, die sie vor dem Militärgefängnis Ramo Verde im Norden des Landes versammelt hat, skandiert den Schlachtruf „Fuerza y Fe“: Kraft und Glaube. Immer häufiger beschwört die Blondine derzeit den Katholizismus. Oft hebt Tintori dann den Holzrosenkranz in die Höhe, der um ihren Hals hängt, während sie von Staatspräsident Nicolás Maduro die Freilassung ihres Mannes und die Rückkehr zur Demokratie verlangt.

Tintori weiß, wie sie ihre Fans bei der Stange hält

Wie eng beide Gebetsanliegen zusammenliegen, verdeutlicht sich angesichts der Gründe, denen López seine Haft verdankt: Wegen „Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Mordes und Terrorismus“ hatte die Staatsanwaltschaft ihn 2014 festnehmen lassen – der Jungpolitiker hatte zu Studentenprotesten gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung aufgerufen, in deren Folge es zu Krawallen mit drei Toten gekommen war. Zwar folgte das Gericht in Caracas dem Mordvorwurf nicht, schon weil zwei der drei Toten auf der Seite der Opposition zu verzeichnen waren. Dennoch verurteilten die Richter López wegen „Anstachelung zur Gewalt und Verschwörung“ zu vierzehn Jahren Haft. 

Der populäre Ex-Bürgermeister der Hauptstadt Caracas durfte sich damit nicht länger zur Wahl stellen, ein Einspruch des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte wurde  ignoriert. López’ Inhaftierung stellte für die Opposition jedoch einen ungleich härteren Schlag dar: Der 45jährige ist Parteivorsitzender der Mitte-Links-Partei „Voluntad Popular“, die im Oppositionsbündnis „Mesa de la Unidad Democrática“ eine zentrale Rolle einnimmt. 

Damit ist López Lateinamerikas prominentester politischer Gefangener und einer von mehr als 100 inhaftierten Oppositionellen in Venezuela. Als Parteichef amtiert er zwar auch aus der Haft heraus, seine Rolle als Regimegegner hat allerdings Ehefrau Lilian übernommen. 

Täglich informiert die Mutter von zwei kleinen Kindern ihre zwei Millionen Twitter-Follower und fast 500.000 Facebook-Fans über die Haftbedingungen ihres Mannes und die Pläne der Opposition. Über den Kanal ihres Gatten folgen ihr weitere 1,5 Millionen Venezolaner. Tintori weiß, wie sie die Fangemeinde bei der Stange hält. Ihre Mixtur aus Flaggenpatriotismus und der emotionalen Tragik der „zu Hause“ wartenden Ehefrau finden in dem südamerikanischen Land Anklang. Für die Opposition gibt sie die hübsche Gegenspielerin eines Regimes mit immer häßlicherem Antlitz, je stärker es um seine Macht fürchtet.

Das muß Maduro spätestens seit dem Sieg der Opposition bei den Parlamentswahlen vor einem Jahr. Erstmals seit der „Bolivarianischen Revolution“ 1999 haben die Sozialisten damit keine Mehrheit mehr in der Nationalversammlung, Präsident Maduro kann seine Vorhaben nur per Dekret durchsetzen. Eine Kampagne für die Amtsenthebung des Präsidenten brachte es im September auf mehr als 400.000 Stimmen, mehr als doppelt soviel, wie nötig gewesen wären. 

Doch aus dem legalen Sturz des verhaßten Autokraten wird vorerst nichts: Erst wurde das mit der Kampagne initiierte Referendum aufs nächste Jahr verschoben, dann stoppte die Wahlkommission das Referendum wegen „Betruges“ im Oktober vollends. Ein Amnestiegesetz des Parlaments, das die politischen Häftlinge befreien sollte, wurde im April für ungültig erklärt.

Ausgestanden ist die politische Krise für die Regierung damit aber kaum. Nicht zuletzt wirtschaftliche Gründe sorgen dafür, daß sich immer mehr Venezolaner vom einst populären „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ abwenden. Das wegen seiner Erdölvorkommen früher reichste Land Lateinamerikas hat nach 17 Jahren Sozialismus mit Hyperinflation und Lebensmittelknappheit zu kämpfen. Selbst das für die Erdölförderung nötige Rohöl mußte Venezuela zwischenzeitlich importieren. 

Maduros Vorgänger, der von 1999 bis zu seinem Tod 2013 amtierende Hugo Chávez, konnte derlei ökonomische Probleme noch mit seinem unbestrittenen Charisma und Verbalattacken auf den Westen kompensieren. Seinem politischen Ziehsohn mangelt es indes nicht nur am politischen Händchen für die Probleme des Landes, sondern auch an einem Mindestmaß an Rückhalt in der Bevölkerung. Denn es gibt kaum noch etwas zu verteilen: Immer länger müssen die Venezolaner Schlange stehen, um selbst an Grundnahrungsmittel zu gelangen – die Folge sind Plünderungen. 

Die Hauptstadt Caracas machte nun Schlagzeilen als Stadt mit der höchsten Mordrate außerhalb von Kriegsgebieten. Lilian Tintori bestärkt diese Entwicklung nur in ihrem Kampf gegen das Regime. „Wir sind im schlimmsten Moment der Diktatur angekommen, aber wir werden uns befreien und unsere Demokratie retten“, kommentiert sie die Lage, gekleidet in ein Shirt mit einem Andy-Warhol-Konterfrei ihres Mannes.