© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/16 / 18. November 2016

Klammheimliches Einverständnis
Verfolgung: Seit Jahren sitzt Wikileaks-Gründer Julian Assange in der Botschaft Ecuadors in London fest
Thorsten Hinz

Seit viereinhalb Jahren sitzt Julian Assange, der Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, in der ecuadorianischen Botschaft in London fest. Vor der Haustür patrouillieren Polizisten, die den Auftrag haben, ihn festzunehmen, falls er aus dem Gebäude tritt. Er würde dann nach Schweden ausgeliefert werden, wo im November 2010 gegen ihn ein Haftbefehl wegen sexueller Belästigung und Nötigung ausgestellt wurde. Assange bestreitet die Vorwürfe, sie seien ein Vorwand für seine politisch motivierte Verfolgung. Er fürchtet seine Auslieferung an die USA, wo ihm eine Anklage wegen Geheimnisverrats drohen würde.

Assange hatte seit 2007 ihm zugespielte geheime Dokumente veröffentlicht, die unter anderem Kriegsverbrechen der US-Armee im Irak-Krieg belegen und die auswärtigen Beziehungen der USA betreffen. Dadurch war unter anderem bekanntgeworden, daß ein Mitarbeiter der FDP-Zentrale im Jahr 2009 die US-Botschaft brühwarm über die laufenden Koalitionsverhandlungen informiert hatte.

Nachdem im Mai 2012 in Großbritannien sämtliche Rechtsmittel gegen die Auslieferung nach Schweden ausgeschöpft waren, begab Assange sich in die Botschaft Ecuadors. Sein Lebensraum beschränkt sich dort auf wenige Quadratmeter, ohne Frischluft, Sonnenlicht und Bewegung im Freien. Die Gesundheit des 45jährigen hat schweren Schaden genommen. Von Herzproblemen ist die Rede, von Bluthochruck, einer jahrelangen chronischen Lungenerkrankung, von zitternden Händen.

Auch psychisch ist er angeschlagen, was sich in Wutausbrüchen, nächtlichem Schreien, einem zertrümmerten Möbelstück äußert. Das Botschaftsasyl ist zu einer Art von Langzeitfolter geworden. Im Februar 2016 hat eine Expertengruppe des UN-Menschenrechtsrates die Umstände, unter denen er vegetiert, als Freiheitsberaubung klassifiziert und von der britischen und schwedischen Regierung für ihn Bewegungsfreiheit gefordert. Beide Regierungen lehnten das als „lächerlich“ ab.

In Deutschland, wo Politiker und Journalisten sich in dem Drang, die übrige Welt moralisch zu missionieren, gewöhnlich von keinem übertreffen lassen, scheint die Zerstörung eines Mannes, der bis zum Beweis des Gegenteils als unschuldig zu gelten hat, niemanden zu stören. Die Entwicklung des Falls wird zwar registriert, aber in einem unbeteiligten Ton, der scharf mit dem verbalen Aufwand kontrastiert, den die tatsächliche oder vermeintliche Unterdrückung von Aktivisten, Journalisten, Bloggern in Rußland auslöst. Der Einsatz für Menschenrechte ist nicht bedingungslos, sondern eine Frage der politischen Opportunität. Man kann sogar Häme, Schadenfreude, ein klammheimliches Einverständnis aus der deutschen Presse herauslesen. Als im Oktober 2016 die Botschaft Assanges Internetzugang kappte, weil Wikileaks mit der Veröffentlichung kompromittierender Dokumente von und über Hillary Clinton in den amerikanischen Wahlkampf eingriff, titelte Die Zeit erwartungsvoll: „Will Ecuador Assange loswerden?“ und nannte ihn zynisch einen „unbequemen Gast“. Die FAZ wählte für die Besprechung des Films „Inside Wikileaks – Die fünfte Gewalt“, in dem der Australier als rücksichtsloser Egomane erscheint, den Ausspruch eines seiner Kritiker im Film als Schlagzeile: „Es klebt Blut an den Händen von Assange!“

Vorwurf der Vergewaltigung von zwei Schwedinnen

Unkritisch und unreflektiert wird der Vorwurf der Vergewaltigung repetiert, was einer moralischen Stigmatisierung gleichkommt. Spätestens seit der gerichtlich festgestellten Falschbeschuldigung des Moderators Jörg Kachelmann durch eine instabile und rachsüchtige Partnerin muß man solche Anwürfe mit Vorsicht genießen. Im Fall von Assange stellten sich zwei junge, doch reife Frauen – eine Politikerin und eine Journalistin – als Opfer dar. Ursprünglich waren sie „Groupies“, die von seinem politischen und publizistischen Engagement begeistert waren und rasch seinem Charisma erlagen. Es kam mehrmals zu sexuellen Kontakten, deren Einzelheiten zum Streitfall wurden, nachdem klar war, daß der Bewunderte kein weiteres Interesse an ihnen hatte.

Obwohl in Schweden die Vergewaltigung ein Offizialdelikt ist und der entsprechende Paragraph sehr weit gefaßt ist, ließ die zuständige Staatsanwältin eine von der Polizei aufgesetzte Anzeige binnen 24 Stunden fallen, weil sie ihr gegenstandslos erschien. Nachdem eine der Frauen sich Hilfe bei einem einflußreichen Anwalt suchte, der wiederum eine als Radikalfeministin bekannte Staatsanwältin aktivierte, wurde der Fall einige Wochen später erneut aufgerollt. Assange wurde sogar von Interpol zur Fahndung ausgeschrieben. Die beiden Frauen hatten nichts von ihrem Racheakt; sie gerieten in das soziale Fegefeuer des Internets.

Würde ein Putin-Kritiker in vergleichbarer Weise von Polizei und Staatsanwaltschaft ins Visier genommen, wäre das Geschrei über den offensichtlichen Mißbrauch der Justiz zu politischen Zwecken groß.

Ähnlich liegt der Fall des Computerspezialisten Edward Snowden, der die weltweite digitale Aushorchung anderer Staaten durch anglo-amerikanische Geheimdienste aufgedeckt hat. Sogar das Handy der Kanzlerin gehörte zu den Zielobjekten. Statt dankbar für die Aufklärung zu sein und die flächendeckende Bespitzelung zu kritisieren, zieh Bundespräsident Gauck den jungen Amerikaner  des „puren Verrats“. Er identifizierte sich mit dem Standpunkt der USA, für die Snowden tatsächlich ein Staatsfeind ist. Offenbar verfügen sie über die Mittel und Möglichkeiten, um die Europäer zu absoluter Loyalität und Kooperation zu veranlassen. Im Juli 2013 verweigerten mehrere Länder dem Flugzeug des bolivianischen Präsidenten Evo Morales, der sich auf dem Rückflug aus Moskau befand, die Überflugerlaubnis. Es mußte in Wien landen, wo es von der Polizei durchsucht wurde, weil an Bord Edward Snowden vermutet wurde. Mehrere europäische Länder, darunter auch Deutschland, haben sein Asylgesuch abschlägig beschieden.

Nun kann man Verständnis dafür aufbringen, daß die europäischen Politiker einschließlich der deutschen es nicht wagen, die amerikanischen Interessen und Wünsche zu ignorieren. Auch die Veröffentlichung von Geheimdokumenten und den Bruch der Vertraulichkeit können Politiker nicht einfach billigen, weil Vertraulichkeit zum politischen und diplomatischen Geschäft gehört.

Medien müßten Machtstrukturen analysieren

Doch die Medien, die sich zur vierten, die politische Macht kontrollierenden Gewalt ernannt haben, müßten aus diesem Rollenverständnis heraus einer anderen Logik gehorchen. Statt die Überbringer der Nachrichten zu schmähen oder zu ignorieren, müßten sie ihre Informationen nutzen, um Machtstrukturen durchschaubar zu machen und auf dieser Grundlage das politische Geschehen neu zu analysieren.

Mehrere Zeitungen zitierten 2010 aus Wikileaks, daß Gregor Gysi gegenüber dem US-Botschafter „gesellig und in Plauderlaune“ die Forderung der Linken nach Abschaffung der Nato als den Weg bezeichnet hatte, den gefährlicheren Ruf nach einem Rückzug Deutschlands aus dem Bündnis zu verhindern. Für eine Auflösung der Nato sei ja die Zustimmung der USA, Frankreichs und Großbritanniens nötig. Und das sei unrealistisch. Diese Äußerung ist nicht nur informativer als sämtliche Parteitagsbeschlüsse zur Außenpolitik, aus ihr läßt sich auch – Assange sei Dank! – die wahre Funktion der Linkspartei im Partei- und Staatsgefüge der Bundesrepublik erschließen. 

Informationen wie diese bleiben im politischen Diskurs jedoch ungenutzt. Offenbar äußert sich in der Abneigung vor allem gegen Assange eine professionelle, intellektuelle und emotionale Überforderung. Viele Medienarbeiter sind von der Offenlegung politischer Machtstrukturen und Hierarchien peinlich berührt, weil sie weder willens noch imstande sind, sich dazu in eine reflexive Distanz zu begeben, während gleichzeitig die Beschränkheit ihrer Arbeit ins Licht der Öffentlichkeit rückt. Deshalb werden Leute wie Assange als Vertreter einer fünften Gewalt gebraucht – und verfolgt.