© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/16 / 18. November 2016

„Geflüchtete“ als Geburtshelfer Europas
Vom bizarren Globalisierungsdiskurs bundesdeutscher Meinungsmacher
Wolfgang Müller

Im aufgeklärten Europa haben Gott oder der Weltgeist als unbewegte Beweger der Menschheitsgeschichte weitgehend ausgedient. Auch die Plausibilität von Deutungsmustern wie Klassen- oder Rassenkampf will nach dem 1989 definitiv beendeten totalitären Zeitalter kaum jemandem mehr einleuchten. Die Nachfrage nach dem Universalschlüssel zur Lösung aller Welt-rätsel ist gleichwohl ungebrochen. Die transatlantischen Funktionseliten glauben ihn in einer Macht gefunden zu haben, die sie Globalisierung nennen.

Ideologisch generiert Globalisierung eine seltsame Mischung aus Fatalismus und Enthusiasmus, wie sie sich in der berüchtigten Rechtfertigung findet, mit der Angela Merkel ihre Katastrophenpolitik verteidigte: „Es liegt nicht in unserer Macht, wie viele nach Deutschland kommen.“ In diesem lapidaren Satz, so interpretierte dies Jochen Buchsteiner, Londoner FAZ-Korrespondent, stecke eine verblüffende Kapitulation und zugleich ein kühner Aufbruch. „Er enthält den Verzicht auf die wichtigsten Gestaltungsmittel der Politik – die Kontrolle über das Staatsgebiet und das Staatsvolk. In seiner Totalität bedeutet er, daß das Deutschland, das wir kennen, vergehen wird.“ 

Merkels Migrationspolitik offenbare somit einen Geschichtsdeterminismus, der vom unaufhaltsamen Epochenwechsel ausgehe und diesen sogar beschleunigen, wenn nicht vorwegnehmen wolle: „Jahrzehntelang wurde die ‘Festung Europa’ gehalten – in der stillen Übereinkunft, daß eine Lockerung des Grenzregimes unser Gemeinwesen bis zur Unkenntlichkeit verändern würde“ (FAZ vom 31. Oktober 2015). Für Buchsteiner gibt Merkel Deutschland und Europa preis, um sich auf die Seite des vermeintlichen Siegers zu schlagen, des „Raubtierkapitalismus“ (Helmut Schmidt), der die Globalisierung vorantreibt, und dessen Imperativ, die für Merkel „unverhandelbare“ weltweite „Freizügigkeit für Menschen und Waren“, Grenzen ohnehin planiere.

Globalisiert und modern als Synonym für xenophil

Der linksliberale Mainstream des Feuilletons und des Hörsaals sieht das genauso. Fast pünktlich zum Jahrestag von Buchsteiners luzider Analyse formuliert Claudius Seidl, der von Spiegel und Süddeutscher Zeitung sozialisierte Leiter des FAS-Kulturressorts, deren Credo. „Globalisierer und Kosmopoliten“, also die politischen, ökonomischen und moralischen Eliten, würden sich gegen die nur vom „Ressentiment“ gesteuerten, von „Krankheit“ und realitätsfernem „Irrationalismus“ befallenen, „schreienden und pöbelnden Modernisierungsverlierer“, gegen die Populisten von Trump bis Le Pen und Petry durchsetzen (FAS vom 6. November). Widerstand sei gegen die „unaufhaltsamen und unumkehrbaren Globalisierungs- und Modernisierungsprozesse“ zwecklos, stünde auf verlorenem Posten, trompetet der beseligte Seidl in plumper Rhetorik der Alternativlosigkeit. Obwohl ihm hier und da leicht mulmig zu werden scheint angesichts von „ein paar zu vielen Menschen“, die auf der Verliererseite stehen. Etwa die Armen in den USA, von denen es 2016 doppelt so viele gibt wie 1980, nämlich 43 Millionen, und die, wie der Soziologe und FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube am Tag eins nach Donald Trumps Wahlsieg in bislang vermißter Deutlichkeit feststellt, in Jahrzehnten sich vertiefender sozialer Ungleichheit erfahren hätten, „wie die Plutokratie unter jeder ‘Administration’ wuchs, ganz gleich welcher Partei sie angehörte“.

Daß also nicht zwangläufig unter einer „ansteckenden Krankheit“ leidet oder verrückt („irrational“) handelt, wer sich gegen die sozioökonomischen Verwerfungen der Globalisierung stemmt, kommt ihren sie als segenspendende Schicksalsmacht preisenden Lobrednern immer seltener in den Sinn. Demagogisch nicht unbegabt, stellt Seidl stattdessen die unproblematische soziale Akzeptanz von Frauenemanzipation und Homosexualität als Ausweis von globalisierter Modernität auf eine Stufe mit der Zumutung, „Fremde und Muslime“ zu dulden. Globalisiert und modern werden hier per Taschenspielertrick flugs Synonyme für xenophil oder islamophil.

Gut möglich, daß der rasante FAS-Auflagenschwund Seidl, Jahrgang 1959, noch kurz vor dem Ruhestand auf die Straße setzt und ins Lager jener von ihm verachteten „Hinterherhinkenden“ befördert, die er so schmäht wie der Sozialist François Hollande die „Zahnlosen“, die Armen Frankreichs. Dann hätte der vom Ressentiment gegen vermeintliche „Pöbler und Schreier“ angestachelte Freihandels-Apologet und Migrationslobbyist viel Zeit, um sich endlich mit dem überaus rationalen Kern der Globalisierungskritik zu befassen.

Um sich à jour zu bringen, müßte Seidl dafür nicht einmal die inzwischen kanonischen Kritiken an „Global brutal“ studieren, wie sie Michel Chossudovskys, Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf vor bald zwanzig Jahren vorlegten. Deren Argumente gegen das „weltoffene Regime der Liberalisierung“, der globalisierten Armut und Umweltzerstörung, fanden allerdings erst wieder im Rahmen der Massenproteste gegen Ceta und TTIP den Weg in die breitere Öffentlichkeit. 

Unter bundesdeutschen Sozialwissenschaftlern fielen ihre Einsichten in die Nachtseiten der Globalisierung jedoch nicht gänzlich auf unfruchtbaren Boden, da es weiterhin kritische Geister gibt, die, frei nach Max Horkheimer, vom Kapitalismus nicht schweigen wollen, wenn sie von der Globalisierung sprechen.

Bringschuld Europas wegen seiner Kolonialgeschichte 

Zu ihnen zählt der unentwegt zur EU publizierende Flensburger Sozialphilosoph Hauke Brunkhorst. Anders als der Verblendungszusammenhänge stiftende Seidl redet der Jürgen-Habermas-Adept des Jahrgangs 1945 immerhin streckenweise Tacheles. Globalisierung sei finanzgetriebener Kapitalismus, neoliberales Regime der Ausbeutung, Austerität, Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, Lohndumping, Outsourcing, ubiquitärer Wettbewerb und Zerstörung der Demokratie, die überdies „marktkonforme“ ökologische wie ökonomische Verheerungen nicht nur im globalen Süden verursache. 

Mit dem Resultat, wie Brunkhorst unter Berufung auf Thomas Pikettys „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ (2013) und Wolfgang Streecks „Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ (2013) resümiert, daß Sozialstaat und sozialer Friede gefährdet werde, daß die sozialen Unterschiede wieder „das unerträgliche Ausmaß von 1900“ erreicht hätten. Begleitet von kräftigen, entpolitisierenden, die Demokratie schwächenden Effekten, wie etwa der drastisch geschrumpften Wahlbeteiligung, die im „unteren Viertel der Gesellschaft“ dreißig Prozent und weniger betrage  (Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/2016). 

So weit, so richtig. Wenn da nicht Brunkhorsts infantiles Therapiekonzept wäre, das an den ignoranten linksliberalen Illusionismus des Leitmedien-Journalismus à la Seidl andockt. Denn der unbeirrbar am internationalistischen Utopismus seiner sozialistischen Lehr- und Wanderjahre klebende Brunkhorst begreift die vom Globalismus ausgelöste „Flüchtlingskrise“ allen Ernstes als „Chance zur demokratischen Neugründung Europas“. 

Warum? Weil viele „Geflüchtete“ die Kinder- und Kindeskinder „vormals von uns kolonisierter Völker“ seien. Ihnen gegenüber bestünde schon wegen der von Völkermord geprägten Kolonialgeschichte, der „wir einen nicht unerheblichen Teil unseres Reichtums“ verdanken, eine moralische Verpflichtung. „Sie gehören somit zu uns und dem Jus Publicum Europeaum“, das auszuweiten sei zum „euroafrikanischen, eurasischen und globalen Verfassungsraum“. Mit den dann ungehindert einströmenden Massen aus Europas ehemaligen Kolonien komme auch „die Demokratie nach Europa zurück“. 

Damit ist der für eine Globalisierung mit menschlichem Antlitz, gegen den „Rückzug in den Nationalstaat“ fechtende Brunkhorst glücklich beim bizarren Sozialromantizismus der Linken-Vorsitzenden Katja Kipping gelandet (JF 34/16), die, wie einst der Anarchist Michail Bakunin, hofft, „Geflüchtete“, Millionen Unzivilisierte, Elende und Analphabeten, das „Lumpenproletariat“ (Karl Marx), würden Europa den „besseren Morgen“ sozialer Gerechtigkeit bescheren. 

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