© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/16 / 25. November 2016

In die Dschihad-Falle getappt
Rußland: Das schöne Bild vom friedlichen Miteinander der Religionen bekommt zunehmend Risse
Thomas Fasbender

Fünfzehn Festnahmen mutmaßlicher Terroristen in Moskau und im nordkaukasischen Inguschetien in der Vorwoche, Prozeß gegen mutmaßliche Terroristen der verbotenen Hizb ut Tahrir in Sankt Petersburg, Ausheben umfangreicher Waffenlager, Sprengstoffunde in der Größenordnung von zehn Kilogramm TNT – die russischen Sicherheitsbehörden stehen einem wachsenden Dschihad-Problem gegenüber. 

In allen Fällen spricht der Inlandsgeheimdienst FSB von Sympathisanten oder Agenten der Terrororganisation Islamischer Staat (IS). Erst Anfang Oktober war der aus Syrien stammende IS-Emissär Subajri Sautijew zusammen mit fünf einheimischen Islamisten bei einem FSB-Spezialeinsatz in Inguschetien getötet worden.

IS will Rache für Moskaus Engagement in Syrien

Im August übernahm der IS erstmals die Verantwortung für Anschläge auf russischem Territorium. Zwei Männer hatten während einer Verkehrskontrolle im Moskauer Umland das Feuer auf zwei Polizisten eröffnet und einen davon schwer verletzt. Die Polizisten konnten die Angreifer töten. Später tauchte im Internet ein Video auf, in dem die beiden Männer dem IS-Chef, dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi, die Treue schworen. Zuvor hatte der IS seine Anhänger zu Terroranschlägen gegen russische Einrichtungen als Antwort auf den Einsatz russischer Streitkräfte in Syrien aufgerufen.

Lange Zeit glaubte man in Moskau, das jahrhundertelang eingeübte Neben- und Miteinander von Christen und Muslimen schütze das Land vor Verwerfungen wie in Westeuropa, wo muslimische Minderheiten historisch gesehen ein Novum sind. 

An der mittleren Wolga und im Kaukasus ist der Islam seit über tausend Jahren zu Hause. Mit vierzehn Prozent Muslimen ist Rußland mit Abstand der „islamischste“ der großen europäischen Staaten. 2009 bezeichnete der damalige Präsident Dmitri Medwedew sein Land als „Teil der islamischen Welt“ – auch Wladimir Putin drückte sich wiederholt so aus. Noch im Frühjahr 2016 unterstrich er, Rußland sei ein „zuverlässiger Verbündeter“ der islamischen Welt. 

Die Einrichtung der Strategischen Arbeitsgruppe „Rußland – die islamische Welt“ unter dem Dach der Kul-Scharif-Moschee in der tatarischen Hauptstadt Kasan wurde vom Präsidenten persönlich begleitet. Auch die russische Orientalistik genießt einen ausgezeichneten Ruf. Islamwissenschaftler, etwa der 2015 verstorbene frühere Ministerpräsident Jewgenij Primakow, findet man in den höchsten Rängen der Politik und der Sicherheitsdienste.

Rußland ist seit jeher ein ethnischer und religiöser Schmelztiegel. Das Judentum war nördlich des Schwarzen Meers schon in der Spätantike verbreitet. Buddhistische Kalmücken siedeln nahe der Wolgamündung, versprengte finno-ugrische Völker von Karelien bis jenseits des Urals: Mari, Udmurten, Chanten, Mansen, Komi und andere. 

180 Völkerschaften leben in Rußland, 100 Sprachen verschiedenster Sprachfamilien werden gesprochen. Was angesichts einer derartigen Vielfalt Stabilität gewährt, ist die mit 80 Prozent eindeutige Stellung der russischen Bevölkerungsmehrheit. Größte ethnische Minderheiten sind die Tataren – muslimische Nachkommen der einstigen mongolischen Eroberer –, die Baschkiren, Tschuwaschen und Tschetschenen.

Nun entspricht die Realität nicht ganz dem schönen Bild vom friedlichen Miteinander. Aller jahrhundertelangen Übung zum Trotz: Ständige Alltagsprobleme, aber auch die immer wiederkehrenden Eruptionen kollektiven Hasses durchziehen die russische Geschichte wie die anderer Länder auch. 

Wenn die vier Millionen Moskauer Muslime am Ende des Ramadan ihr Fasten brechen und Hunderttausende betender Gläubiger sich in den Straßen rund um die wenigen Moscheen drängen, kommt es immer öfter zu Streit und Empörung. 

Islamische Renaissance in südlichen Teilrepubliken

Daran hat auch nichts geändert, daß Präsident Wladimir Putin im September 2015, gemeinsam mit seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, feierlich die neue Moskauer Kathedralmoschee weihte – mit Platz für 10.000 Menschen die zweitgrößte Moschee in Europa.

Auch die beste Nationalitätenpolitik kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Rolle der Muslime in Rußland an Brisanz zulegt. Da ist einmal die Tatsache, daß ihr Anteil durch Demographie und Zuwanderung steigt. Da sind zum anderen die separatistischen Bestrebungen im Nordkaukasus, die als solche jahrhundertealt sind, denen aber durch die Verbindung mit dem islamistischen Dschihad neue Motivation zuströmt. 

Als entscheidende Triebkraft könnte es sich jedoch erweisen, daß Religion an sich – derzeit vor allem der Islam – nach einem Jahrhundert der Marginalisierung und Säkularisierung in ganz Europa neue Bedeutung gewinnt. In Rußland kann man das in den Teilrepubliken Tatarstan und Baschkortostan beobachten. In den 1990ern hätte kaum jemand dort eine islamische Renaissance für möglich gehalten. 

Nach siebzig Jahren Kommunismus war Religion jedweder Art zuverlässig privatisiert, allenfalls ein Element nationaler Folklore. Inzwischen jedoch, und zwar gerade unter der jungen Generation, wächst auch in Tatarstan die Zahl der Kopftücher und die der Moscheebesucher.

Rußland ist im übrigen das einzige Land der Welt, wo für Muslime in unterschiedlichen Regionen unterschiedliche Kleiderordnungen gelten. Vorreiter in Sachen Konservatismus ist Tschetschenien, dessen Gebietschef Ramsan Kadyrow den Islam vor allem zur Festigung seiner Macht einsetzt. Dort gehen die Frauen nicht mehr ohne Kopftuch auf die Straße – sie riskieren, von Wildfremden angepöbelt und geschlagen zu werden.

 In den Gouvernements Mordowia und Stawropol hingegen ist religiös normierte Kleidung in öffentlichen Gebäuden verboten. Und in Tatarstan, wo Muslime eine knappe Mehrheit stellen, prägen sowohl Kopftuch und Hidschab als auch Minirock und wehende Haare das Straßenbild.

Das multikulturelle Durch- und Nebeneinander ist auch ein Grund für einige prägende Züge der russischen Politik, etwa das imperiale Selbstverständnis. Rußland war nie ein Nationalstaat im westeuropäischen Verständnis. Auch der russische Autoritarismus verdankt sich, unter anderem, der Notwendigkeit, ein babylonisches Völkerkonstrukt zu befrieden. 

Wo die europäischen Nationen bedingt durch ihre jeweilige Homogenität, durch einheitliche Traditionen und gemeinsame Werte über Jahrhunderte hinweg Selbstverwaltung und, darauf aufbauend, Demokratie entwickeln konnten, blieb dieser Weg den Russen in ihrer Vielfalt versperrt.