© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/16 / 25. November 2016

Von Wundern und Bestrafung
Tumult der Transzendenz und der Sprache: Mit ihrem neuen Roman „Das Pfingstwunder“ bleibt die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff sich und ihrem bisherigen Schaffen treu
Johannes Geißler

Und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen.“ Knapp 2.000 Jahre nach dem in der Apostelgeschichte beschriebenen Wunder treffen sich 34 Dante-Forscher zu Pfingsten 2013 in Rom, um sich über die „Göttliche Komödie“ auszutauschen.

Doch alsbald geschieht Überraschendes: Die versammelten Italianisten beginnen in Zungen zu sprechen. „Wir waren enthemmt, entflammt. Natürlich von Dante. Ahmten alles nach, wozu seine Verse Anlaß boten“. Und: „Entzückt ließen wir Zitate aus der Commedia durch den Raum schwirren, aber gleichzeitig waren wir mit Herzen und Köpfen auch woanders. (…) die Glocken vom Petersdom läuteten zu uns herüber, sie läuteten das Kommen des Heiligen Geistes ein, und dieses Geläut schien den geheimen Takt vorzugeben, nach dem sich der tumultuarische Sprachsalat richtete.“

Schließlich verschwinden die Forscher, drei Angehörige des Personals sowie der Jack-Russell-Terrier Kenny; sie entschweben gen Himmel, werden nicht mehr gesehen. Einzig der Frankfurter Dante-Spezialist Gottlieb Elsheimer bleibt verstört zurück. Er ist es, der den Dante-Kongreß Revue passieren läßt und detailreich auf die einzelnen Vorträge eingeht, die sich jeweils mit einem Canto der „Commedia“ beschäftigen.

Und so ist „Das Pfingstwunder“, Sibylle Lewitscharoffs neues Buch, vor allem ein großartiger Essay über Dante und dessen Hauptwerk, in dem der Dichter an der Seite Vergils Hölle, Läuterungsberg und Himmel durchschreitet; ein alter und wirkmächtiger, aber selten gelesener Text, der es vor allem den Deutschen angetan hat, wie jene vielen Übertragungen zeigen, auf die der Erzähler eingeht.

Folgt man dem Diktum Wittgensteins, wonach die Grenzen der Sprache die Grenzen der Welt bedeuten, so meint Sprach- auch immer Welterweiterung. Dieser Idee hat sich Lewitscharoff, 1954 in Stuttgart geboren, bereits mit ihrem Debüt „Pong“ verschrieben: Sprachlich virtuos, ja akrobatisch erschafft sich der gleichnamige Held der Erzählung die Welt in einem schizophren-phantastischen Gedankenstrom neu. Mit einem „Pong“-Textauszug gewann sie 1998 den Bachmann-Wettbewerb und wurde für ihre Worterfindungskunst gelobt. Es folgten drei weitere Bücher, die sich ebenfalls zumeist in monologischer Form skurrilen Gestalten und Themen widmeten.

Vom Kritikerliebling zum Paria 

Der 2009 erschienene Roman „Apostoloff“ bedeutete für Lewitscharoff den Durchbruch beim Publikum und weist starke autobiographische Bezüge auf: Wie die Ich-Erzählerin so ist auch Lewitscharoff die Tochter einer deutschen Mutter und eines bulgarischen Vaters, eines Gynäkologen, der in den vierziger Jahren nach Deutschland kam, unter Depressionen litt, sich 1965 das Leben nahm.

2011 erschien mit „Blumenberg“ ein Roman über den gleichnamigen Philosophen: Dem zeigt sich eines Nachts ein Löwe, der ihn von nun an begleitet, zu Hause im Arbeitszimmer und während der Vorlesung im Hörsaal liegt – ein Zeichen Gottes, ein Jenseitsbeweis, nur einer alten Nonne ebenfalls sichtbar: „Wen haben Sie denn dabei?“

Lewitscharoff, die mit ihrem Mann, dem Maler Friedrich Meckseper, in Berlin lebt, entwickelte sich zu einer Art Kritikerliebling, preisgekrönt: Marie-Luise-Kaschnitz-Preis 2008, Berliner Literaturpreis 2010, Kleist-Preis und Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2011; im selben Jahr stand sie mit „Blumenberg“ auf der sogenannten Shortlist zum Deutschen Buchpreis. 2013 erfolgte mit dem Büchnerpreis der Ritterschlag.

Ein Jahr später die Zäsur: Lewitscharoff wird zur Persona non grata, zum Paria des Literaturbetriebs. Am 2. März 2014 hatte die Autorin auf Einladung des Staatsschauspiels Dresden eine Rede gehalten, Titel: „Von der Machbarkeit. Die wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod“. Darin setzte sie sich mit dem Sterben ihrer Mutter und ihrer Großmutter auseinander und kritisierte die „um sich greifende Blähvorstellung der Egomanen, sie seien die Schmiede ihres Schicksals“. Beim Thema Geburt kam sie auf künstliche Befruchtung und Leihmutterschaft zu sprechen: Dieses „Fortpflanzungsgemurkse“ erscheine ihr „derart widerwärtig (…), daß ich sogar geneigt bin, Kinder, die auf solch abartigen Wegen entstanden sind, als Halbwesen anzusehen. Nicht ganz echt sind sie in meinen Augen, sondern zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas. Das ist gewiß ungerecht, weil es den Kindern etwas anlastet, wofür sie rein gar nichts können. Aber meine Abscheu ist in solchen Fällen stärker als die Vernunft.“

Der folgende Aufschrei war so gut wie einhellig: In den großen Zeitungen wurde Lewitscharoff für ihre Vorstellungen scharf kritisiert, ihr eine reaktionäre Weltsicht und „dumpfe Wissenschafts- und Technikfeindschaft“ unterstellt. Autorenkollegen rückten von ihr ab, sprachen etwa von einer „ungeheuerlichen Hetze, die einem absurden, biologistischen, faschistoiden Natürlichkeitsideal huldigt“ (Judith Schalansky). Technische Machbarkeit war nun, wenn es etwa um den Kinderwunsch eines lesbischen Paares ging, etwas sehr Positives.

Der Spiegel-Kolumnist Georg Diez hatte bereits zur Verleihung des Büchnerpreises hinter Lewitscharoff eine „Kleinbürgerin“ gewittert. Nun, 2014, rief er indirekt zum Boykott auf: „Sibylle Lewitscharoff ist eine schlimme Kulturkriegerin, und wer jetzt noch ein Buch von ihr liest, kann nicht mehr behaupten, er habe von nichts gewußt.“

Ihren im selben Jahr erscheinenden Kriminalroman „Killmousky“ verriß oder beschwieg die Kritik bis auf Ausnahmen eisig. Um so erfreulicher, daß man der Lewitscharoff wieder gewogen scheint, wie die positive Aufnahme des neuen Buches zeigt.

Für ihre Wortwahl entschuldigte sie sich damals öffentlich, rückte aber nicht von ihrer Position ab. Diese erklärte sie auch mit ihren religiösen Vorstellungen: Erlösung sei nicht leicht zu haben, das Böse müsse bestraft werden. Vielleicht ein Grund für ihre intensive Dante-Beschäftigung: „Er macht unmißverständlich klar, daß es einst zur großen Abrechnung kommen wird, in deren Gefolge schwere Strafen zu erleiden sein werden.“

Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder. Roman. Suhrkamp, Berlin 2016, gebunden, 349 Seiten, 24 Euro